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Gast im Weltraum

Gast im Weltraum

Titel: Gast im Weltraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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eine Mondlandschaft war. Ich selbst stand auf einem Felsblock, der von kleinen Rissen durchzogen war. Er war ungefähr sechs Schritt lang und endete wie mit einem Messer abgeschnitten. An dieser Kante saß ein junger Mann von sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren in einem grauen Hausanzug. Er hatte es sich zwischen zwei Felstrümmern bequem gemacht und ließ die Beine in den Abgrund hängen. Als wir eintraten, wandte er sich uns zu und lächelte. Dann erhob er sich, um uns zu begrüßen.
    „Wo sind wir eigentlich?“ fragte ich und drückte ihm die Hand. Ter Haar war inzwischen an den Rand des Abgrundes getreten. Der Anblick war, wie ich mich gleich selbst überzeugen konnte, in seiner Wildheit bezaubernd. Die Wand fiel fast senkrecht ab. Sie war von schwarzen Schlünden und rissigen Vorsprüngen unterbrochen. Einige hundert Meter tiefer ragten Nadeln, wie die Zinken eines riesigen Kammes, in das Licht der Sonne. Der Fuß des Felshanges war nicht zu erkennen, da er im Schatten lag. „Wir sind an der Nordseite des Hadleypasses“, antwortete Rudelik. „Von hier hat man die beste Aussicht auf die Wand.“
    Mit ausgestreckter Hand wies er auf einen in Sonnenlicht getauchten, mit schwarzen Rissen bedeckten Felsen, dessen pilzförmiger Gipfel in der Leere zu hängen schien.
    „Die unbezwungene Wand!“ rief ich in einem Ton unwillkürlicher Hochachtung. Der Alpinist oder, besser gesagt, Selenist war in mir erwacht; denn ich hatte selbst manche Klettertour auf dem Mond unternommen.
    „Leider… vorderhand ist sie es noch“, antwortete Rudelik und lächelte bedauernd. „Viermal habe ich es zusammen mit meinem Bruder versucht. Nun, ich habe es noch nicht aufgegeben.“
    „Das kann ich sehr gut verstehen“, sagte ich. „Die Wand hängt dort ungefähr dreißig Meter über, nicht wahr?“
    „Vierzig“, verbesserte mich Rudelik. „Ich glaube, wenn ich es zum fünftenmal versuchte – siehst du, von dort aus, wo die kleine Einbuchtung ist, siehst du sie? –, dann würde es vielleicht gelingen.“
    „Wenn sie nicht eine Sackgasse ist“, bemerkte ich zweifelnd und wollte näher herantreten, um diese schwindelerregende Stelle besser ins Auge fassen zu können. Aber der Physiker streckte den Arm aus und hielt mich zurück. Er lächelte, als wollte er um Entschuldigung bitten, und mahnte: „Weiter geht es nicht, sonst holst du dir eine Beule am Kopf.“
    Richtig! Wir waren ja nicht auf dem Mond!
    „Was machst du jetzt hier?“ fragte ich.
    „Ich schaue. Diese Stelle hat mich in ihren Bann geschlagen. Aber setzt euch doch!“ Er wies auf den Felsvorsprung über dem Abgrund. Wir ließen uns nieder.
    „Eine schöne Wohnung hast du“, murmelte ich und betrachtete die nackte, gespensterhafte, wilde Schönheit der Mondlandschaft, die im Augenblick einer Eruption erstarrt und für alle Ewigkeiten so erhalten geblieben war. Fünf Kilometer unter uns lag zwischen den gezackten Felsgraten der flache, von tiefen Rissen durchfurchte Kratergrund.
    „Auch die Einrichtung ist nicht übel“‚ fügte ich hinzu und klopfte auf den Felsblock, der einen hohlen Ton von sich gab.
    Rudelik lachte kurz auf. „Als ich zum letztenmal hier, das heißt dort war“, erklärte er nach einer Weile, „kam nur ein Gedanke, den ich später wieder aus dem Gedächtnis verlor. Ich dachte, daß ich mich vielleicht erinnere, wenn ich an der gleichen Stelle bin. Das ist eine alte Methode, wißt ihr…“
    „Und hast du dich erinnert?“
    „Nein… aber… außerdem war es schwer, das alles aufzugeben, zu verlassen … Es ist aber höchste Zeit, das zu tun, nicht wahr?“
    Er beugte sich so tief über den Abgrund, daß es mich unwillkürlich kalt überlief. Ich wollte schon den Arm ausstrecken, ihn festhalten… Rudelik machte eine Handbewegung. Die Mondlandschaft war verschwunden. Gleichzeitig lachten Ter Haar und ich laut auf. Wir saßen in einem kleinen, dreiekkigen Zimmer auf einem Schreibtisch. Die Beine hingen fast bis auf den Fußboden. In der Ecke stand ein Rechenautomat. Sein bernsteinfarbener Emailüberzug glänzte im Licht. An der Wand zwischen zwei Sesseln hing eine Fotografie. Ich trat näher und erkannte das Bild, das ich kurz zuvor „in natura“ gesehen hatte; die unbezwungene Wand auf dem Mond. Die Aufnahme war nicht groß, gab aber die ganze gefahrdrohende Wildheit getreu wieder. „Viermal warst du dort?“ fragte ich und ließ den Blick nicht von der Fotografie.
     „Ja.“
    Rudelik nahm sie von der Wand und

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