Gauck: Eine Biographie (German Edition)
ihm derzeitig keine Aktivitäten ausgehen werden, die eine weitere Bearbeitung im OV erforderlich machen.« Das war eine Fehleinschätzung durch den ehrgeizigen Terpe. Der letzte amtierende Stasichef in Rostock, Oberst Artur Amthor, ärgerte sich später: »Eine falsche Beurteilung dieses Gesprächs durch Mitarbeiter der KD Rostock führte zu dem Entschluss, den OV ›Larve‹ einzustellen und einen IM -Vorlauf anzulegen. Es war ein Trugschluss, dass Gauck sich in seinen politischen Ansichten grundsätzlich geändert habe. Er entpuppte sich schon bald als verbissener Gegner des MfS und seiner 187 Mitarbeiter.« Das Terpe-Protokoll sollte Joachim Gauck nach der Wende noch eine Menge Ärger bereiten, als es 1990 losgelöst von seiner Stasiakte an die Öffentlichkeit gelangte. 188
»Der Norden wacht auf!«
An meinem Klingelschild stand nicht Bürgerrechtler, sondern Pastor.
Joachim Gauck
Wir waren ziemlich sicher, er kriegt die Stimmen des Volkes. Das ist der Mann, den man wählen wird.
Dietlind Glüer, Die »Mutter der
Revolution« in Rostock
Joachim Gauck spielt gerne mit dem Teufel. Er überschreitet bewusst Grenzen, um den Zuhörern die Augen zu öffnen.
Gaucks ehemaliger Amtskollege
Sybrand Lohmann
Götterdämmerung
Sommer 1989. Dramatische Veränderungen liegen in der Luft. Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow hat mit seiner Reformpolitik ein politisches Erdbeben in den Ostblockstaaten ausgelöst. Vor allem die Tatsache, dass er den einzelnen Staaten des Warschauer Pakts einen eigenen Weg bei ihren inneren Reformen zugestanden hat, lässt das bisherige Machtgefüge im Ostblock in Trümmer zerfallen. Seit 1961 sind die DDR -Bürger nicht mehr so politisiert gewesen wie jetzt. Die Deutschen in Ost und West spüren: Etwas Grundlegendes bahnt sich an, etwas von historischer Bedeutung. Doch niemand weiß genau, was geschehen wird. Im besonders reformfreudigen 189 Ungarn werden die Reisebestimmungen gelockert und am 27. Juni 1989 in einem symbolischen Akt der Stacheldrahtzaun an der Grenze zu Österreich gekappt. Es ist nur ein kleiner Riss im Eisernen Vorhang, der sich vor Jahrzehnten zwischen Ost und West, zwischen Diktatur und Freiheit gesenkt hat. Doch für die Ostdeutschen ist er das Signal zu einem erneuten Exodus in den Westen, wie ihn die DDR seit dem Mauerbau nicht mehr gesehen hat. In Heerscharen lassen junge DDR -Bürger alles stehen und liegen und flüchten über die ungarische Grenze nach Österreich, als das nicht mehr lebensgefährlich ist. Tausende ihrer Landsleute haben sich zeitgleich auf die Gelände bundesdeutscher Botschaften in Warschau, Budapest und Prag gedrängt. Im Oktober erfüllen sich ihre Träume und Hoffnungen, und sie dürfen in Sonderzügen in die Bundesrepublik ausreisen. Insgesamt verlassen 1989 mehr als zweihunderttausend Menschen die DDR , die Einwohnerzahl von Erfurt oder von Lübeck.
Die Folgen dieses erneuten Aderlasses an Menschen sind allgegenwärtig, auch im unmittelbaren Umfeld von Joachim Gauck. »In meiner Gemeinde erlebte ich, dass erwachsene Menschen aufstanden im evangelischen Gottesdienst, wo alles sonst sehr gesittet zugeht, und sagten, sie könnten es nicht mehr ertragen. Das eigene Kind sei nun heute Morgen nicht mehr nach Hause gekommen, es sei wohl nun auch im Zug nach Prag oder Warschau oder Budapest. Früher hatten die Leute Angst, sich zu äußern, das hatten sie auch jetzt noch. Aber der Zorn darüber, dass man den Kindern keine Zukunft gab, wuchs an, und so begannen sie lauter zu werden.« Im September versuchen auch zwei junge Mädchen aus Gaucks Kirchgemeinde zu fliehen. Sie werden dabei verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Zusammen mit seinem Kollegen Sybrand Lohmann schreibt 190 Gauck einen Brief an Erich Honecker, in dem sich die beiden Pastoren für die Mädchen einsetzen. Der Staatschef antwortet nicht, er hat andere Sorgen. Knapp eine Woche später drängen ihn seine Politbürokollegen aus dem Amt. Am 18. Oktober muss Honecker als Parteichef zurücktreten, wenige Tage später auch als Staatsoberhaupt der DDR . Beide Ämter erbt sein langjähriger Kronprinz Egon Krenz.
Gauck persönlich empfindet den Sommer 1989 als eine »bleierne Zeit«. Gerade ist auch seine Tochter Gesine in den Westen gegangen, das dritte seiner vier Kinder. Er hat es noch nicht verwunden. Selbst die DDR zu verlassen ist für ihn nach wie vor keine Option. Er will bleiben und die Gesellschaft von innen heraus verändern, so wie er sich
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