Gauck: Eine Biographie (German Edition)
28. September wurde Gauck von der Volkskammer mit überwältigender Mehrheit zum »Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Verwaltung der Akten und Dateien des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit« gewählt. Einen Gegenkandidaten gab es nicht. Joachim Gauck empfand »ein Gefühl der Ehre: ›Ausgerechnet ich, den Erich Mielkes Vasallen wie viele andere Landsleute auch möglichst kleinhalten wollten, sollte in Zukunft deren papierene Hinterlassenschaft verwalten.‹« Trotz seines großen Erfolgs war ihm an diesem Abend nicht zum Feiern zumute. Zu dramatisch, zu kraftraubend waren die Ereignisse der letzten Monate für den politikunerfahrenen Fünfzigjährigen gewesen. Wie jeden Abend fiel er übermüdet in sein Bett.
Am Abend des 2. Oktober 1990 feierte die DDR -Regierung mit der Creme der bundesdeutschen Politik im Ost-Berliner Schauspielhaus die Wiedervereinigung. Kurz vor dem Konzert, Beethovens neunter Symphonie, dirigiert 254 von Kurt Masur, trat im Foyer plötzlich ein Beamter aus dem Bonner Innenministerium auf Joachim Gauck und seine Frau zu: »Herr Gauck, ich muss Ihnen noch eine Urkunde aushändigen.« Gauck, »ein wenig irritiert«, hätte sich am liebsten geweigert; er wollte in den Saal, um einen guten Sitzplatz zu bekommen. Aber der Mann ließ nicht locker. Es war die Urkunde mit der offiziellen Ernennung Gaucks zum Sonderbeauftragten. Dieses Papier musste Gauck vor Mitternacht in der Hand haben, da war die Ministerialbürokratie unerbittlich. Der künftige Behördenchef war natürlich einsichtig und nahm am späten Abend im Flur des Berliner Schauspielhauses seine Ernennungsurkunde entgegen. »Ich stand da, die Leute liefen um mich herum und ich wusste gar nicht, wohin mit dem Ding.«
Die Geburtsstunde des wiedervereinigten Deutschland erlebte Joachim Gauck auf den Stufen des Reichstages, eine Reihe hinter Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundespräsident Richard von Weizsäcker. In seinen Erinnerungen schrieb er, wie er Hand in Hand mit seiner Frau Hansi dort stand und sie »noch einmal einen der inzwischen selten gewordenen Momente von Nähe« spürten. Es war ihr letzter gemeinsamer Auftritt als Ehepaar. 255
Ein neues Leben
Meine Mutter war die Verlassene. Er ging weg. Er hatte sein neues Leben. Mein Vater hat meine Mutter nicht immer fair behandelt. Er war manchmal ein Verdränger vor dem Herrn.
Joachim Gaucks Sohn Christian
Gauck hat manches zu sehr den Verwaltungsbeamten überlassen und sich zu wenig gekümmert. Er war kein richtiger Behördenchef. Geiger machte die eigentliche Arbeit, Gauck hat ihn gewähren lassen.
Behördenmitarbeiter Stefan Wolle
[…] den konkreten Aufbau mussten andere in die Hand nehmen. Ich konnte mir weder vorstellen, wie viele Räume gebraucht würden, noch wie viele Mitarbeiter welcher Qualifikation erforderlich wären, ganz zu schweigen davon, in welcher Gehaltsstufe sie einzuordnen wären.
Joachim Gauck über den Aufbau der BStU
Trennung
Mit der Wende, dem großen Umbruch im Leben von siebzehn Millionen DDR -Bürgern, kam für Joachim und Hansi Gauck auch das private Ende ihrer Ehe, die dreißig Jahre gedauert hatte. Ab April 1990 pendelte der Volkskammerabgeordnete zwischen Berlin und Rostock. Die alte Freundin der Familie, Beate Brodowski, beobachtete: »Unter der Woche war er in Berlin, am Wochenende stritten sie sich.« 256 »So, unser Abgeordneter hackt Holz«, frotzelte Nachbar Henry Lohse wenn er Gauck am Wochenende zu Haus antraf.
Gauck schrieb in seinen Erinnerungen: »Als die großen Kinder aus dem Haus waren, wurde immer deutlicher, dass der Vorrat an Gemeinsamkeiten wie das notwendige Maß an Auseinandersetzungen fehlten. […] Ich wollte fort, vorwärts.« Hansi Gauck erinnerte sich demgegenüber, dass sie in dieser Zeit noch überlegten, ob sie gemeinsam nach Berlin ziehen sollten. »Aber irgendwann hat sich mein Mann ja von mir getrennt. Da hatte sich das dann ohnehin erledigt.«
Gauck stürzte sich in sein neues Leben in Berlin. Sein Muster, sich mit völliger Hingabe auf die Arbeit zu konzentrieren und darüber alles andere zu vergessen, wiederholte sich. Die Familie in Rostock trat mehr und mehr in den Hintergrund, seine Besuche im Norden wurden seltener. Selbstkritisch beschrieb er diese Phase seines Lebens: »Diesen Verlust von Bekannten und meiner Familie spürte ich sehr wohl und heute tut es mir zum Teil leid darum […] Auch zu DDR -Zeiten mangelte es mir oft an der Intensität menschlicher Beziehungen:
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