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Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauck: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Frank
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Institutionen, auf Akteneinsicht gegeben. Nach Amtsantritt des Sonderbeauftragten wurde der Erwartungsdruck der Öffentlichkeit noch größer. Schon vierzehn Tage nachdem Gauck zum Sonderbeauftragten ernannt worden war, forderte einer der damaligen Staatssekretäre im Innenministerium die unverzügliche Überprüfung einer Reihe wichtiger Personen im öffentlichen Dienst.
    Geiger war konsterniert. »Ich hatte noch nicht mal eine Akte gesehen. Niemand wusste so recht, was wir an Material von der Stasi überhaupt zur Verfügung haben. Es gab zudem keinerlei Erfahrung, wie derartige Prüfungen rechtsstaatlich durchzuführen seien.« Hinzu kam: Das Stasiarchiv in der Normannenstraße war zu diesem Zeitpunkt personell gar nicht in der Lage, Anfragen in größerem Umfang zu bearbeiten. Zum Jahresende hatte die Behörde insgesamt erst zweiundfünfzig Mitarbeiter. In seiner Not entwarf Geiger die ersten Bescheide der Behörde persönlich und von Hand. Als er kurz darauf ein altes DDR -Diktiergerät bekam und es erstmalig verwendete, las er am nächsten Tag auf den getippten Mitteilungen statt »Bericht« überall »Beichte«. Alles musste noch einmal geschrieben werden.
    Mitte Dezember 1990 trat eine vorläufige Benutzerordnung für die Akten der ehemaligen Staatssicherheit in Kraft. Auch sie war von Hansjörg Geiger entworfen worden. Als die Behörde daraufhin am 2. Januar 1991 erstmals ihre Türen für einige Betroffene öffnete, spielten sich eindrucksvolle Szenen ab. Hunderte Wartende bildeten schon am frühen Morgen eine lange Schlange vor dem Gebäude in der 275 Behrenstraße. Nur mit Mühe konnten die Wachleute verhindern, dass die Menschen das Gebäude stürmten. Einige besonders prominente Bürgerrechtler waren unter den Ersten, die erfahren durften, welche Informationen die Stasi über sie gesammelt hatte. Bärbel Bohley saß vor nicht weniger als zwei Dutzend Aktenbänden. Vera Lengsfeld erfuhr, dass ihr Ehemann sie an die Stasi verraten hatte, und musste das verarbeiten. Ulrich Schacht freute sich, dass keiner seiner Freunde über ihn berichtet hatte. Nach dem Studium seiner Akten sagte er glücklich zu Gauck: »Niemand hat mich verraten, ich schreibe denen allen einen Dankesbrief.« Am Abend gab es keine Antragsformulare zur Beantragung der Akteneinsicht mehr. In den ersten eineinhalb Jahren wurden 1,7 Millionen Anträge auf Akteneinsicht und sonstige Ersuchen bei der Behörde gestellt. Bei dieser Antragsflut sollte es in den kommenden Jahren bleiben. Hansjörg Geiger erinnerte sich stolz, dass die Erledigung von Ersuchen Mitte der neunziger Jahre »lief wie die Käferproduktion«.

    35  Mit Rainer Eppelmann am ersten Tag der Akteneinsicht bei der Gauck-Behörde
    Ein großes Problem für die junge Behörde waren Begehrlichkeiten der bundesdeutschen Geheimdienste, auf die Akten zugreifen zu können. Der damalige Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Gerhard Boeden, forderte öffentlich »eingegrenzten und kontrollierten« Zugang zu den Akten, auch wenn das den Vereinbarungen des Einigungsvertrages widersprach. Bei einem Gespräch im Bundesministerium des Inneren saßen Gauck und Geiger einmal der geballten Macht von dreißig Vertretern aus dem Ministerium, vom Verfassungsschutz, militärischem Abschirmdienst, Bundesnachrichtendienst und Bundeskriminalamt gegenüber, die ihre Hände nach den Akten ausstreckten. Geiger wehrte die Begehrlichkeiten von Geheimdiensten und Polizei kompromisslos ab. Gauck, immer auf Konsens 276 bedacht, litt während der Verhandlung Höllenqualen, aber er ließ Geiger gewähren. Seine Rolle im Rahmen solcher Gespräche schätzte er realistisch ein. »Mir war klar, dass es in diesen Verhandlungen ganz anders wirken würde, wenn ein versierter Jurist denen gegenübertritt an Stelle eines ehemaligen Pfarrers und Bürgerrechtlers, der kaum etwas anderes konnte, als ihnen nach dem Motto ins Gewissen zu reden: Das ist doch wichtig, und das muss jetzt sein.« Nach dem Gespräch gestand der Behördenchef seinem Direktor bewundernd: »Herr Geiger, ich wusste gar nicht, dass man mit so hohen Leuten so umgehen kann.« Dem war klar, was in seinem Chef vorging. »Er war als Pastor sozialisiert. Einer, der Konflikte auflöst und nicht Streit vom Zaun bricht. Das war bis dahin sein Lebensweg gewesen.«

IM »Czerny«
    Der Druck aus der Politik auf die Behörde, den Wünschen der Geheimdienstler nachzugeben, war gewaltig. Zu Gaucks Weigerung, diesen den Zugriff auf die Akten zu ermöglichen,

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