GB84: Roman (German Edition)
strampelnd machte er beim ersten Mal überallhin –
›Ich liebe dich‹ …«
Eine Wahrheit aus den Schatten, im Hintergrund, wohin ihre Lügen nicht vordrangen
–
»… jenes letzte Haus im Abschlussjahr, letzte Erinnerungen aus dem letzten Jahr. Der Mann in Uniform, der sagte, er sei mein Vater, und mich zum Wagen hinaustrug, obwohl ich strampelte und schrie. Meine Mutter, die in Tränen aufgelöst war und dem Wagen schreiend bis zum Ende der Straße hinterherlief. Der Arzt mit weißem Kittel, der ihr mit seiner Schwesternhelferin und seinen Tabletten hinterherrannte –
›Ich hasse dich. Ich hasse dich. Ich hasse dich‹ …«
Diese Lügen, die die Wahrheit aus dem Licht in die Schatten vertrieben
–
Die Stimmen, die in die Stille folgten
.
Neil Fontaine fährt zum Hotel in Heathrow und checkt unter dem Namen Anthony Farrant ein. Mr. Farrant betritt sein Doppelzimmer. Er hat die Briefe in der Hand und wartet nun auf die Bewerber –
Das Licht wird dämmrig und erlischt
–
Der Empfang ruft an. Es klopft an der Tür.
Jerry Witherspoon und Roger Vaughan stehen auf dem Gang –
Im Hintergrund Weihnachtslieder
–
Jerry hält sich ein Taschentuch vor den Mund. Roger hat einen schwarzen Müllsack in der Hand.
Neil weicht zurück ins Zimmer. Jerry und Roger folgen ihm. Jerry macht die Tür zu, Roger legt den Müllsack aufs Bett.
»Einen schönen Gruß von Jupiter Offices«, sagt Roger. »Fröhliche Weihnachten, Neil.«
Neil starrt den Müllsack an. »Was ist da drin?«
»Ich möchte dir doch die Überraschung nicht verderben«, antwortet Roger.
Neil zuckt mit den Schultern, geht zum Bett und macht den Müllsack auf. Darin steckt der Karton eines tragbaren Fernsehers. Er ist geöffnet und wieder verschlossen worden. Neil nimmt den Karton heraus und öffnet ihn. Darin steckt etwas in einer Einkaufstüte. Neil hebt die Tüte aus dem Karton und öffnet sie. Darin steckt ein Paket aus alten Zeitungen. Neil nimmt das Paket heraus und öffnet es –
Der abgetrennte Kopf von Jennifer Johnson starrt ihn an –
Die frühere Mrs. Fontaine.
Das Kalamares in Inverness Mews, das Capannina auf der Romilly Street, der Scandia Room im Piccadilly Hotel, das Icelandic Steakhouse am Haymarket
–
Die ruhigen Zeiten und leeren Orte, an denen Malcolm das Orchester dirigierte
–
In ihrer Stille, an ihren Orten
.
Die Kellner brachten ihnen keine Speisekarten, nahmen keine Bestellungen auf
–
Sie waren Schatten, Geister
–
Das Orchester der Geister
–
Zurück von den Toten im Land der Lebenden
.
PETER
am Tag für die Suppenküche – Die Kumpel machten einfach ihre eigene Grube auf, klaubten Kohle. Schoben ihre Schubkarren auf die Halde – sahen aus wie Ameisen da oben auf dem Hügel. Dann schoben sie die Schubkarren wieder runter – Alle dachten nur noch an Weihnachten. Tombolas und Weihnachtsessen, die Leuten redeten von nichts anderem – Weihnachten, Weihnachten, Weihnachten. Redeten mehr darüber als über den verdammten Streik. Vor allem nach dem letzten Aufmarsch am 21. Dezember – der war größer als sonst gewesen. Und danach gab es einen Drink – das hatte es schon eine Weile nicht mehr gegeben. Ich konnte ihnen nicht verdenken, dass sie alle nur noch an Weihnachten dachten. Aber was, wenn es vorbei war – das machte mir Sorgen. Die ersten paar Tage im Januar – der längste Monat des ganzen verdammten Jahres. Schon schlimm genug, wenn man nicht auf Streik war – Ich ging wieder in den Welfare Club und zog für die Feier mein Weihnachtsmannkostüm an – Man konnte sich kaum rühren vor Geschenken. Essensspenden – Geschenke von der SOGAT, der Druckergewerkschaft. Von der CGT in Frankreich. Jede Menge zu essen und zu trinken von der NALGO in Sheffield, der Gewerkschaft der Angestellten im öffentlichen Dienst. Die Wohnungsabteilung der Bezirksverwaltung hatte eine Tombola veranstaltet – vierhundert Kinder drehten jedenfalls völlig durch, die hatten noch nie so einen Berg an Geschenken gesehen – Kekse, Schokolade, Bonbons, Sandwiches – Mary meinte, sie hätten allein fünf Stunden gebraucht, nur um die Butter auf das Brot für die Sandwiches zu schmieren – Schinken, Schweinefleisch, Lachs, Gurken – einfach alles. Die Kinder waren im siebten Himmel, und die Erwachsenen hatten Tränen in den Augen, ungelogen. Da kommt dieser kleine Steppke zu mir, zupft mich am Kostüm und sagt, hoffentlich ist mein Dad nächstes Jahr auch noch im Streik. Und das war alles nur für die Jüngsten –
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