GB84: Roman (German Edition)
ihren Anführern im Speisesaal des Royal Victoria Hotel zu dienen. Sie drücken dem Juden die Hände auf die Brust und fragen, in welcher Art von Geschäft er denn hier sei. Der Jude lacht und sagt ihnen, das
Geschäft
selbst sei sein Geschäft. Er sei hier, weil er Geschäftliches zu regeln habe –
Er trägt seine lederne Fliegerjacke.
Neil Fontaine bittet sie, ihre Hände von dem Juden zu nehmen und beiseitezutreten. Das tun die großen Kerle. Der Jude dankt ihnen. Er geht von einem Frühstückstisch zum anderen und stellt sich den großen Bossen aus Durham, Northumberland und Cumberland vor, aus den Midlands, aus Lancashire und Derbyshire. Er drängt diese gemäßigten Typen, diese schwachen Feiglinge dazu, heute echte Männer zu werden, stark und mutig –
Donnerstag, 12. April 1984 –
Gerade heute
.
Die großen Bosse aus den Midlands, aus Lancashire und Derbyshire qualmen eine Zigarette nach der anderen, die großen Bosse aus Durham, Northumberland und Cumberland trinken eine Tasse Tee nach der anderen. Dann entschuldigen sich diese gemäßigten Männer, diese schwachen Feiglinge und lassen den Juden allein zurück zwischen all den Frühstückstischen mit den vollen Aschenbechern und leeren Tassen –
Der Jude trägt seine Lederjacke. Er ist auf dem Kriegspfad.
Er zieht sich nach oben in das zeitweilige Kriegshauptquartier in seiner Sheffield-Suite zurück –
Er geht auf und ab. Er nimmt Posen ein, bellt Befehle –
Fenster auf. Die Sonne soll herein. Die Vorhänge sollen sich bauschen.
Neil öffnet die Fenster und lässt Sonne, Wind und die Außenwelt herein:
Dreitausend streikende Bergleute umringen die Landeszentrale. Zweitausend Polizisten schauen zu, wie Obst und Dosen auf die Anführer aus Nottinghamshire herabregnen
.
Neil ruft den Zimmerservice an. Der Jude wünscht Wein zum Essen –
Ihr Präsident erklärt, dass das Drängen der Rechten auf eine landesweite Abstimmung nicht satzungsgemäß sei
.
Wieder ruft Neil Fontaine den Zimmerservice an. Der Jude wünscht eine weitere Flasche Wein –
Das Nationale Exekutivkomitee schlägt vor, die notwendige 55-Prozent-Mehrheit, die bei einer möglichen Streikabstimmung nötig ist, auf eine einfache Mehrheit zu senken und eine außerordentliche Mitgliederversammlung einzuberufen
.
Der Jude trinkt Flasche um Flasche. Er lümmelt auf dem Doppelbett herum.
Der Präsident lehnt sich mit einem Megafon in der Hand aus einem der oberen Fenster und ruft der Meute unten zu: »Wir können gewinnen, wenn wir die Entschlossenheit beweisen, die wir 1972 und 1974 gezeigt haben.«
Die Vorhänge fallen. Die Sonne geht zu Bett. Die Fenster werden geschlossen –
»Locker, locker, locker«, skandiert die Meute in den dunklen Straßen von Sheffield
.
Der Jude legt sich das Kissen über den Kopf. Er zittert und schluchzt.
Neil hebt eine weitere leere Flasche auf und stellt einen weiteren umgestürzten Tisch wieder hin.
Der Jude steht auf. Er wankt durch die Trümmer seiner Hotelsuite. Er keucht, er ist betrunken, er ist fertig. »Das sind fürchterliche Stunden, Neil. Die fürchterlichen Stunden eines schändlichen Krieges – er hat seine Armee, Neil. Seine Roten Garden. Die Stoßtruppen des Sozialismus. Und wo sind unsere Soldaten, Neil? Die Soldaten, die diesen Krieg mit uns ausfechten, die diesen Krieg für sie gewinnen? Ach, sie hat so viel Vertrauen in mich gesetzt, Neil. So viel – und ich habe sie enttäuscht. So enttäuscht – sie erwartet so viel, Neil, so, so viel – und ich muss es bringen, Neil. Das ist so überaus wichtig – ich muss ihr den Sieg bringen. Ihren Sieg – Sieg, Neil. Sieg – ich habe ihr den Sieg versprochen. Nichts Geringeres als den Sieg …«
Der Jude fällt aufs Bett. Er schluchzt. Er ist betrunken. Fertig.
Neil Fontaine hebt das Bettzeug vom Boden auf. Er schließt die Vorhänge, deckt den Juden zu.
»Locker, locker, locker.«
Er wünscht ihm süße Träume und gibt ihm einen Gutenachtkuss.
Sie schreit und zittert noch immer. Sie versucht noch immer, sich das Blut von der Kleidung zu wischen, von den Haaren, vom Gesicht. Hinten im Wagen drehen die Hunde völlig durch
–
Sie sind auf der A49 außerhalb von Ludlow. Vor ihnen ist ein
Little Chef –
Der Mechaniker fährt auf den Parkplatz, schaltet den Motor aus und packt sie
–
Joyce starrt ihn an
.
Der Mechaniker hält sie an den Schultern fest. »Hast du Familie?« fragt er
.
Sie knabbert mit den Zähnen an den Lippen
.
Der Mechaniker drückt fest zu.
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