GB84: Roman (German Edition)
dem Toten macht die Runde. Jeder hat eine andere Story – Er wurde überfahren; er wurde niedergeknüppelt; er wurde von einem Ziegelstein getroffen – Frauen und Kinder sind auf die Straße gekommen und brüllen uns an. Der Betriebsleiter bittet um Besonnenheit – die Jungs von der Gewerkschaft ebenfalls – aber keiner hört drauf. Dann kommt die Nachricht, dass die Zeche für die Nacht zumacht und dass Arthur auf dem Weg ist. Jubel. Gegen drei Uhr klettert Arthur auf ein Autodach. Er bittet um zwei Minuten Stille – als Zeichen des Respekts. Die Polizisten nehmen als Erste die Helme ab – das muss man ihnen lassen. Aber kein Jubel.
Du hast uns von den Bergen geholt
. Nur Schweigen. Tag 14 . Gegen fünf sinke ich ins Bett.
Du hast uns aus dem Meer geholt
. Um eins wache ich zu den Nachrichten auf. Leon Brittan verspricht, jeden einzelnen Polizisten auf der Welt zu aktivieren,
ZWEITE WOCHE
Montag, 12. März – Sonntag, 18. März 1984
Der Jude hat seine Befehle. Neil Fontaine hat seine eigenen. Er holt den Juden pünktlich um zehn Uhr vor dem Gebäude der
Times
ab. Der Jude trägt Fliegerjacke, hat eine Kamera und einen Kassettenrekorder bei sich –
»Ich bin ihr Augen und Ohren«, erklärt er Neil.
Sie fahren mit hundertfünfzig Sachen die M1 entlang, der Jude spricht ins Autotelefon. Er ist guter Laune. South Wales hat den Aufruf der Gewerkschaft zum Streik mit überwältigender Mehrheit abgelehnt; Nottinghamshire hat für eine zechenweise Abstimmung plädiert; die Streikposten jagen von einer Zeche zur anderen –
Der Jude will an den Ort des Geschehens –
Im Royal Victoria Hotel, Sheffield, sind zwei Zimmer reserviert –
Im Epizentrum
–
Oben eine Suite für den Juden, unten ein Einzelzimmer für Neil; gebratene Nierchen und Champagner aufs Zimmer für den Juden, ein Burger und eine Cola an der Bar für Neil –
Vertraute Gesichter, Gewerkschafter, die die ganze Nacht über kommen und gehen –
Andere Gesichter
.
Neil Fontaine liegt im Einzelbett. Im Einzelzimmer. Die Lampe brennt. Er kann nicht schlafen. Nie. Er hat seine eigenen Befehle –
Andere Augen, andere Ohren
–
Um drei Uhr klingelt das Telefon drei Mal.
Neil fährt den Wagen zum Eingang. Der Jude wartet in seiner Fliegerjacke. Der Mercedes verlässt die Innenstadt in Richtung Rotherham; dann die A631 entlang. Sie überqueren die A1 und kommen nach Nottinghamshire.
Schnee liegt auf den Straßen. Hecken. Feldern –
An der Bushaltestelle steht ein Polizeifahrzeug.
Der Jude kann nicht still sitzen. Er schaut zum linken Fenster hinaus, er schaut zum rechten hinaus –
»Ich bin ihr Augen und Ohren«, wiederholt er.
An der Grenze zwischen Yorkshire und Nottinghamshire kommen sie zur Zeche Harworth; hier ist in einer letzten blutigen Schlacht die Spencer Union endgültig geschlagen worden –
Es ist wieder 1937
.
Die Kumpel von Harworth haben dafür gestimmt, die Streiklinie von Yorkshire in militärischer Formation zu überschreiten; hundertfünfzig Polizisten sollen ihnen dabei helfen; fünfhundert von Doncasters härtesten Kumpeln sollen sie daran hindern –
Die Kumpel von Harworth kehren zu ihren Familien zurück –
Erstes Blutvergießen unter Arthurs Streikposten
.
Der Jude ist schlechter Laune. Sie halten an einem Rastplatz und schalten das Radio ein:
»Das National Coal Board hat das Oberste Gericht angerufen, um eine einstweilige Verfügung zu erwirken, die die Bergarbeiter aus Yorkshire daran hindern soll, in anderen Gegenden Streikposten zu stellen.«
Der Jude ist noch schlechterer Laune. Er hängt am Autotelefon. Tobt –
»Es gibt einen verdammten Generalstreik, wenn der Aufsichtsratsvorsitzende das tut. Bestellen Sie ihm von mir, das ist absoluter Irrsinn. So servieren wir diesem roten Arschloch die ganze Arbeiterbewegung auf dem Silbertablett. Er hat’s doch im Fernsehen gesehen, oder nicht? Hat er’s gesehen? Also, ich bin hier im beschissenen Harworth, und Sie können Ihrem Aufsichtsratsvorsitzenden bestellen, die Antwort ist sicher nicht das Beschäftigungsgesetz von 1980. Die Antwort ist: noch mehr Polizisten. Mehr Polizisten, verdammt, mit mehr Vorgesetzten, die noch Mumm in den Knochen haben. Das ist die richtige Antwort. Und Hunde, verdammt noch mal. Noch mehr Hunde. Und sagen Sie ihm, Stephen Sweet wird das auch der Premierministerin mitteilen – ich bin ihr nämlich Augen und Ohren. Ihre verdammten Augen und Ohren hier draußen!«
Er legt auf, lehnt sich zurück und seufzt. Dann schüttelt
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