GB84: Roman (German Edition)
ein altes Paar stand am Fenster und beobachtete uns. Der Kumpel drehte sich zu mir um. Schaute mich an. Ich werde nie wieder einfahren, sagte er. Nie wieder in die Zeche. Da unten arbeite ich nicht mehr. Mach ich nicht. Ich möchte jetzt bitte nach Hause. Ich möchte heim – Ich zog mein Taschentuch heraus und versuchte, das Blut an seinem Kopf zu stillen. Er streckte die Hand aus. Berührte mich mit blutigen Fingern am Mund – Was ist denn mit dir passiert, fragte er. Ich hob die Hand. Betastete meinen Mund. Blut an der Hand. Keine Vorderzähne mehr. Ich sah an mir herunter. Mein Hemd war zerrissen. Das Uhrenarmband kaputt. Mein Gesicht war von den Tritten ganz zerschunden. Es war die Uhr meines Vaters. Die Schuhe waren aufgeschlitzt. Die Hosenbeine zerrissen. Ich spürte einen riesigen blauen Fleck auf dem Rücken wachsen. Auf Rippen und Schienbeinen. Schnitte und Kratzer überall. Ich half dem jungen Burschen auf und sagte, dann schaffen wir dich jetzt mal besser heim, oder? Ich führte ihn durch all die Menschen – Polizei. Pensionäre. Leute mit Einkaufstüten. So, als ob das alles ganz normal wäre – Krankenwagenfahrer fluchten und blinkten die Polizisten an. Kumpel bekamen direkt vor deren Augen eine über den Schädel gebraten. Wurden hinter ihren Häusern verprügelt. In ihren Gärten und Gassen – Beim Fuhrunternehmen stand ein verdammter Eiswagen. Und da saß doch sogar einer und aß ein verdammtes Eis. So, als ob er einen schönen freien Tag hätte – Weiter hinten konnte man noch immer Qualm sehen. Schwarzen, beißenden Qualm von brennenden Autos und Reifen. Die Polizisten schauten uns hinterher. Aus ihren Visieren. Zwei von ihnen wedelten mit Zehn-Pfund-Scheinen. Bye-bye. Euch werde ich nicht wiedersehen, dachte ich. Nicht, wo ihr hingeht – Morgen war es eine Woche her. Verdammt lang. Die meiste Zeit hatte ich die Decke angestarrt. Schlafzimmer . Zahnarzt. Welfare Club. Das einzige Mal an der frischen Luft war zu Johns Beerdigung. Ein schöner, ein trauriger Tag. Es gab einen Bus, aber der war um neun schon voll. Also nahmen Little Mick und Keith Cooper Tony und mich mit. Wieder keine Spur von Martin. Holten in Knottingley den Bus ein. Locker achttausend Mann. Erinnerte mich an Fred Matthews und seine Beerdigung 1972. Der war auf dem Streikposten vor einem Kraftwerk getötet worden. Keadby. Damals
SIEBZEHNTE WOCHE
Montag, 25. Juni – Sonntag, 1. Juli 1984
Die Flure und Toiletten von Westminster sind voller Menschen. Stoßzeit. Der Jude pfeift
Waterloo
. Man klopft ihm auf den Rücken, gibt ihm die Hand. Der Jude verkündet:
»Viertausend Mann in 180 Einsatzgruppen. 43 Mann berittene Polizei. 24 Hundeführer. Aufklärer in den gegnerischen Reihen. Helikopter und militärische Beobachtung. Reserveregimenter stehen bereit. Einhundert Verhaftungen. Zahllose Verletzungen – Orgreave war eine Schlacht. Sie haben durchaus das Recht, das so zu nennen. Denn es herrscht Krieg – doch diese Schlacht haben wir gewonnen. Und wir werden auch den Krieg gewinnen. Dies ist unsere größte Stunde bislang, meine Herren. Unsere allergrößte Stunde. Allein das Kraftwerk Rugeley hat an dem Tag 1028 Lieferungen Kohle erhalten, und …«
Der Jude verstummt mitten im Satz. Der Flur ist leer –
Eine Hand landet auf dem Rücken des Juden. Ein Wort in seinem Ohr. Dann ist die Hand verschwunden.
Der Jude eilt auf die Toilette. Er kommt wieder heraus, aber er pfeift nicht mehr –
Er stinkt nach Erbrochenem.
Neil Fontaine holt den Wagen.
Malcolm Morris fuhr nach London. Nach Hounslow. Dort hatten sie ein Dorf errichtet, in dem sie ihre Einsatzkräfte trainierten, die berittene Polizei
–
In Hounslow
.
Malcolm fand seinen laminierten Pass in der Tasche und reichte ihn dem Beamten an den Eisentoren. Der Beamte brachte ihn in ein Wachhäuschen
–
Malcolm wartete bei laufendem Radio im Wagen
–
I Won’t Let the Sun Go Down on Me.
Der Beamte kehrte mit seinem Pass zurück, das Tor ging hoch, Malcolm war wieder drin
.
Er fuhr an den Ställen, Zwingern und Kasernengebäuden vorbei, hörte, wie sie übten, auf ihre Schilde zu hämmern
.
Er bog ins Dorf ein
–
Pitsville, UK.
Zwei Häuserreihen mit Pseudo-Ziegelfassaden entlang einer Straße, dahinter ein Anwesen mit Reihenhaushälften in Pseudo-Grau. Malcolm beobachtete die berittene Polizei und die Greiftruppen, die neben einer Reihe von zugenagelten Pseudo-Läden übten. Sie griffen an
–
NATO-Helme auf den Köpfen, Schlagstöcke
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