Gebannt: Band 3 (German Edition)
er gerade war.
Meine einzige Hoffnung bestand darin, dass auch er vielleicht Zeit brauchen würde, um die Schrift zu entziffern, und ich kannte Phoenix gut genug, um zu wissen, dass er den Inhalt nicht vielen – wenn überhaupt jemandem – anvertrauen würde. Das konnte uns womöglich auch weiterhelfen.
Ja, so bin ich – immer sehe ich das Positive.
Kapitel Fünfzehn
» Ihr Verdorrte am Herzen, kein Friede wird euch zuteilwerden!
Das Buch Henoch 6, 5
Ich schlie f nicht gut. Mir ging das alles nicht lange genug aus dem Kopf, um mich wirklich entspannen zu können. Ein paarmal nickte ich ein, schreckte aber scheinbar Sekunden später wieder auf. Es war Samstag – Mädchen in meinem Alter sollten an diesem Tag im Einkaufszentrum sein, sich einen Film ansehen, im schlimmsten Fall lernen. Mein Leben würde nie wieder so sein.
Vielleicht … war es eigentlich nie so gewesen.
Obwohl es noch so früh war, hatte ich nicht erwartet, Dad an der Frühstückstheke vorzufinden. Aber dann fiel mir wieder ein, dass ich es hier mit einer ganz neuen Art von Elternteil zu tun hatte. Einer, die ich überhaupt nicht einschätzen konnte.
Anhand der Krawatte, die er trug, merkte ich, dass er au f dem Weg ins Büro war. Wahrscheinlich hatte er Meetings geplant. Was die Arbeit betraf, machte Dad keinen Unterschied zwischen Wochenenden und Werktagen. Ich stellte mir vor, dass es für ihn einer Todesstrafe gleichkäme, wenn er zwei ganze Tage pro Woche ohne Arbeit auskommen müsste, au f die er sich konzentrieren konnte.
» Morgen«, sagte ich und rieb mir die Augen. Ich war wütend au f ihn, weil er ausgerechnet jetzt damit anfangen musste, sich in mein Leben einzumischen. Am liebsten hätte ich zu ihm gesagt, er solle sich raushalten, ihm erklärt, dass er jetzt nicht damit anfangen konnte, eine aktive Vaterrolle zu übernehmen, nachdem er die ersten siebzehn Jahre meines Lebens darau f verzichtet hatte, aber … Ich musste heute raus, ich packte keinen weiteren Tag ohne ordentliches Training.
» Morgen, Liebes«, sagte er und biss in seinen verbrannten Toast.
Ich beschloss, den Frieden zu wahren. » Ich … ähm, ich habe mich heute mit meinem Freund Spence zum Trainieren verabredet.« Ich schluckte meine Sturheit runter und achtete darauf, dass mein Tonfall nicht allzu herausfordernd klang. » Wenn das okay für dich ist?« Ich konnte ihn kaum anschauen, als ich die Worte herauspresste.
Dad klappte der Mund auf. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre das vielleicht komisch gewesen. Aber ich lächelte nicht. Ich war besorgt. Womöglich öffnete ich hier eine Tür, die ich nicht mehr so leicht wieder schließen könnte.
» Um sechs bist du zu Hause.«
Ich nickte und schnappte mir meine Tasche. Bis dahin würde ich viel zu tun haben.
» Ich meine es ernst, Vi. Zwing mich nicht dazu, die Hausarrestregeln noch einmal zu überdenken. Wenn es sein muss, dann werde ich das nämlich tun.«
Himmel, so langsam findet er Gefallen an diesem Zeug. Jetzt fing er schon an, mir zu drohen.
Ich joggte zu Lincolns Wohnung und blieb stehen, als mein Handy klingelte.
» Hi, Griff«, sagte ich, als ich die Rufnummer erkannte. » Es ist früh für dich. Was ist los?«
» Wo bist du?«
» Au f dem Weg zu Spence«, sagte ich und klang dabei so erleichtert, wie ich mich fühlte, der Eden-Vollzugsanstalt entkommen zu sein. Ich verfiel wieder in gemäßigtes Joggingtempo, weil ich vorwärtskommen und mich warm halten wollte.
» Kannst du au f dem Weg im Krankenhaus vorbeikommen?«
» Klar.« Das war kein großer Umweg. » Warum bist du dort?«
» Ich sehe nach Onyx.«
» Oh, klar. Wir sehen uns dort.«
Ich hatte ohnehin vorgehabt, heute bei Onyx vorbeizuschauen. Seit er eingeliefert worden war, hatte ich ihn nicht mehr gesehen, und ich wusste, dass ich das nicht länger aufschieben konnte. Das Problem war – ich war mir nicht sicher, was ich ihm sagen sollte.
Ich rie f Spence an, der klang, als hätte er vergessen, dass wir heute trainieren wollten, und verschob das Ganze um ein paar Stunden. Ich hörte, wie er im Hintergrund au f Knöpfe drückte. Wahrscheinlich würde er noch immer an der PlayStation sitzen, wenn ich bei ihm ankäme.
Ich erreichte das Krankenhaus recht schnell, und während ich mich au f den Weg zu den Stationen machte, wuchs meine Beunruhigung. Ich wusste nicht, was mich erwartete, wenn ich Onyx sah. Wie schlimm er aussehen würde oder was ich zu ihm sagen sollte.
Wird er sich an das erinnern, was er zu mir gesagt hat?
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