Gebannt - Unter Fremdem Himmel
Acht, was er in Anbetracht seiner unsicheren Zukunft bei den Tiden durchaus verstand. Doch Brooke war anders. Mehr als einmal hatten sie gemeinsam im warmen Sommergras gelegen, und sie hatte ihm ins Ohr geflüstert, dass sie beide einmal das Herrscherpaar werden würden. Perry mochte Brooke zwar sehr, aber das würde niemals geschehen. Er würde sich eines Tages eine andere Witterin zur Frau nehmen, um den am stärksten ausgeprägten seiner besonderen Sinne weiterzuvererben. Doch Brooke gab nicht auf – wogegen er im Moment durchaus nichts einzuwenden hatte.
»Also stimmt es, was zwischen dir und Vale vorgefallen ist?«, fragte sie.
Perry seufzte leise. In einem Stamm mit Horchern gab es keine Geheimnisse. »Das war nicht Vale … Die Verletzung stammt nicht von ihm.«
Brooke lächelte wissend, als würde sie ihm nicht glauben. »Das ganze Dorf ist dort unten versammelt, Perry. Der perfekte Moment, um ihn herauszufordern.«
Ernüchtert trat Perry einen Schritt zurück und unterdrückte einen Fluch. Brooke war keine Witterin. Sie würde niemals begreifen, was Hingabe bedeutete … Sosehr er sich auch wünschte, seinen Bruder als Kriegsherrn der Tiden abzulösen, brachte er es dennoch nicht übers Herz, Talon wehzutun.
»Ich kann ihn sehen!«, rief Talon in diesem Moment vom Rand des Daches.
Perry trat schnell zu ihm. Vale überquerte gerade das Feld, das an das Dorf angrenzte; er war so nah, dass ihn nun alle sehen konnten. Sein Bruder war groß gewachsen, genau wie er selbst, aber sieben Jahre älter, mit der Statur eines Mannes. Die Kriegsherrnkette um seinen Hals glänzte hell. Typische Witterer-Tätowierungen schlängelten sich um seinen Bizeps: ein Band auf jedem Arm, einfach und stolz – anders als die beiden wirren Bänder, die Perry trug. Sein Namens-Tattoo zeichnete eine geschwungene Linie in die Haut über seinem Herzen, mit Hebungen und Senkungen wie die Konturen ihres Tals. Er hatte sich das dunkle Haar zurückgekämmt, sodass Perry seine Augen sehen konnte, die wie immer ruhig und gelassen schauten. Hinter seinem Bruder erkannte er eine Trage aus Ästen und Seilen, auf der Vales Beute lag.
Der Hirsch sah aus, als wöge er weit über zweihundert Pfund. Vale hatte ihm den Kopf umgedreht, damit das enorme Geweih nicht über den Boden schleifte. Ein Zehnender. Ein gewaltiges Tier.
Unten auf der Lichtung gab die Trommel einen wuchtigen Rhythmus vor. Die anderen Instrumente stimmten ein und spielten das Lied der Jäger – ein Lied, bei dem Perry jedes Mal Herzklopfen bekam.
Die Dorfbewohner rannten auf Vale zu. Sie nahmen ihm die Trage aus den Händen, brachten ihm Wasser und lobten ihn. Ein Hirsch dieser Größe würde sämtliche Bäuche füllen. Ein solches Tier war ein seltenes Geschenk. Ein gutes Omen für den bevorstehenden Winter und auch für das darauffolgende Frühjahr. Aus diesem Grund hatte Vale also den Stamm zusammenrufen lassen: Er wollte, dass alle sahen, wie er mit seiner Beute heimkehrte.
Perry schaute auf seine zitternden Hände. Dieser Hirsch hätte seine Beute sein müssen. Eigentlich hätte er derjenige sein müssen, der diese Trage hinter sich herzog. Er konnte Vales Glück nicht fassen. Wie hatte er einen solchen Hirsch aufgespürt, während Perry im gesamten Jahr keinen einzigen erlegt hatte? Perry wusste, dass er im Vergleich zu seinem Bruder der bessere Jäger war. Er biss die Zähne zusammen und versuchte, den nächsten Gedanken zu unterdrücken. Doch es war vergebens: Er wusste einfach, dass er auch einen besseren Kriegsherrn abgab.
»Onkel Perry?« Talon schaute zu ihm auf; seine schmächtige Brust hob und senkte sich schwer. Perry sah, wie die Mischung aus Neid und Wut, die in ihm kochte, sich auf dem ausgezehrten Gesicht seines Neffen spiegelte, sich mit Talons Angst vermengte. Er atmete die Verzweiflung ein, die Talon erfasste, und wusste, er hätte nicht zurückkehren dürfen.
Aria | Kapitel Sieben
Aria folgte den Wächtern durch die gewundenen Korridore. Sie wollte so schnell wie möglich die Realität verlassen, in der Gegenstände rosteten und Risse bekamen und Menschen in Feuern starben. Sie wünschte, sie hätte ihr neues Smarteye, um sich zu bilokalisieren und in eine Welt zu entfliehen. Dann könnte sie fort von hier, jetzt sofort, an irgendeinen anderen Ort.
In den Korridoren und den anderen Räumen, in die sie beim Vorbeigehen einen flüchtigen Blick werfen konnte und die wie Cafeterien und Sitzungssäle aussahen, bemerkte sie weitere Wächter.
Weitere Kostenlose Bücher