Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
immer mehr Häftlinge sterben, wird über das Lager I Quarantäne verhängt. Niemand rückt zur Arbeit aus, alle bleiben in den Erdhütten. Für männliche Häftlinge, die am Verhungern sind, bringt das neue Hoffnung. Viel länger hätten sie in ihrer dünnen Häftlingsuniform und vor allem ohne richtige Nahrung die Kälte und die unmenschlich harte Arbeit nicht mehr ausgehalten. Die Kranken werden in das Lager IV gebracht, das im Januar als Krankenlager eingerichtet worden ist, da die Arbeitsunfähigen nicht mehr nach Auschwitz deportiert werden konnten. Die Menschen in dem Lager leiden größte Not. Sie liegen nackt unter dünnen Decken, erhalten keine Medikamente und tragen Verbände aus dem Papier der Zementsäcke. Ende März vegetieren in 76 Erdhütten ungefähr 3000 Häftlinge in Kaufering IV, das zu einem Sterbelager geworden ist. Sie leiden an Darmkrankheiten, Krätze, Ödemen, allgemeiner Erschöpfung und an Typhus, Fleckfieber und Lungentuberkulose. Die große Zahl an Kranken wird von neun Häftlingsärzten, 41 Pflegern und Hilfspersonal versorgt, die aber fast nichts tun können. Ein spezielles Häftlingskommando begräbt täglich zwischen 20 und 30 Tote, denen zuvor die Goldzähne gezogen werden. Die SS-Führung ordnet für Kaufering I den Bau einer improvisierten Entlausungshütte mit Duschen an. Die Häftlinge werden einer schmerzhaften Rasur aller Körperteile unterzogen, unter die Duschen getrieben und nackt im Schnee stehend mit Desinfektionsmittel besprüht. Auch die Erdhütten werden ausgeräuchert, aber nach einiger Zeit sind die Läuse wieder zurück. Während der dreiwöchigen Quarantäne passiert etwas, womit keiner gerechnet hat. Das Internationale Rote Kreuz verschickt an die Häftlinge Pakete mit Lebensmitteln. «Die Quarantäne und diese Pakete mit Würfelzucker, Kondens- und Pulvermilch, Zigaretten und einem richtigen Kaffee halfen vielen von uns, am Leben zu bleiben», sagt Eta Goz aus Tel Aviv. Aber die Pakete haben noch eine andere Wirkung, sie stärken den Überlebenswillen der Gefangenen. Jeder passt auf seine Schätze gut auf, ein Stückchen Zucker kann über einen weiteren Tag Leben entscheiden. Mehrmals am Tag taucht Ibolya einen sauberen Lappenzipfel in eine hochkonzentrierte Zuckerwasserlösung und lässt ihre immer noch sehr schwache Agnes daran nuckeln. Die Rot-Kreuz-Pakete helfen, aber der Kampf um das Überleben ihrer Babys ist noch längst nicht gewonnen. Zum Glück haben Eva und Bözsi so viel Milch, dass sie auch die Neugeborenen der Frauen stillen, die keine haben.
Miriam ist die Letzte, die noch nicht entbunden hat. Dann ist es so weit, sie bekommt die ersten schmerzhaften Krämpfe. «Ich hatte Probleme, und die Wehen dauerten fast 48 Stunden.» Am schlimmsten ist es in der Nacht, da Miriam ständig zur Latrine gehen muss. Doch ihr Bauch ist so groß, dass sie Angst hat herunterzufallen. Bözsi hilft ihr jedes Mal. Die mittlerweile 29-Jährige weicht nicht von ihrer Seite und hält Miriam an der Hand, damit sie nicht in die Grube fällt. «Du musst ruhig sein und nicht ständig hinausgehen», sagt Ernö Vadász zu Miriam, doch sie kann seine Worte kaum hören. «Ich habe solche Schmerzen gehabt, dass ich nur geschrien habe.» Sie hört nicht, wie sich währenddessen auf der anderen Seite des Stacheldrahts mehrere Häftlinge versammeln. Die Männer hören ihre Schreie, jemand sagte ihnen, dass heute ein Kind zur Welt kommen soll. Stundenlang stehen sie frierend in der Kälte und sprechen Tehillim für die Gebärende. Es ist ein alter jüdischer Brauch. Gläubige rezitieren diese Psalme, flehen Gott um Hilfe an, wenn ihr Volk oder ein Einzelner in Gefahr sind. «Miriam, hörst du sie, wie sie für dich beten», sagen ihr die Frauen. «Heute ist Purim, dein Kind wird an Purim zur Welt kommen!» Es ist der 27. Februar 1945. «Das sind die Tage, an denen die Juden wieder Ruhe hatten vor ihren Feinden; es ist der Monat, in dem sich ihr Kummer in Freude verwandelte und ihre Trauer in Glück.» So erklärt das Kapitel 9 des Buches Esther der hebräischen Bibel das Purim-Fest. Miriam liegt auf der Pritsche und nimmt alles wie aus weiter Entfernung wahr. «Ich war vom Schmerz wie gelähmt, aber als ich es später erfuhr, war ich überwältigt.» Nach stundenlangen Krämpfen, mittlerweile ist schon ein neuer Tag angebrochen, ist die 22-Jährige sehr schwach geworden, hat kaum mehr Kraft zu pressen. Ernö Vadász versucht, ruhig zu bleiben, aber seine wachsende Sorge kann er
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