Gebrauchsanweisung für den Gardasee
vorstellen – nur selten das am Leben erhält, was das Besondere einer Region und ihrer Geschichte ausmacht. Einer Tradition wirklich gerecht werden, das heißt zuallererst, sie wahrzunehmen, auf sie aufmerksam zu machen und ihr so womöglich zu dem Respekt zu verhelfen, der ihr zusteht. Sehr viel mehr kann man für Traditionen selten tun; allein schon der – noch so gutgemeinte – Glaube, Traditionen ließen sich bewahren, mündet regelmäßig gerade ins Mißverständnis und in den Mißbrauch von Traditionen.
Mit gutem Grund geht deshalb die Traditionsarbeit, die Menschen wie Clara Pilotti und Don Gabriele Scalmana in und für Tremosine leisten, vollkommen unspektakulär vor sich. Wobei die Bescheidenheit, mit der sie sich auf die Spurensuche machen, allzu leicht über den immensen Aufwand, über die Energie und, vor allem, über die Leidenschaft hinwegtäuscht, die damit verbunden sind. So ist auch Natalinas Biographie, die wir hier nacherzählt haben, bei weitem nicht die einzige, auf die Clara Pilotti uns aufmerksam machte. Jahrelang war sie, Clara, in den Hochtälern und Bergen unterwegs und unterhielt sich mit Dutzenden von Frauen, um ihre Geschichten aufzuzeichnen und sie schließlich sogar zu veröffentlichen.
Im normalen Buchhandel freilich, schon gar im deutschen Buchhandel, ist das daraus entstandene Buch »Donne di Tremosine – Frauen aus Tremosine« leider nicht zu haben. Doch immerhin liegt es bei vielen Zeitschriftenhändlern und im Fremdenverkehrsbüro von Pieve (dem Hauptort von Tremosine) aus – und mit ihm eine Reihe von weiteren Bänden, in denen Clara Pilotti Delaini und ihre Freunde die Alltagsgeschichte Tremosines dokumentiert haben. Und wir behaupten ohne Umschweife: Wer diese Bücher – die meisten von ihnen sind in zweisprachiger Fassung, italienisch und deutsch, erschienen – nicht kennt, wird auch Tremosine nicht kennenlernen.
Aber muß man Tremosine denn überhaupt kennenlernen? Nun, man muß keineswegs. Zum einen gibt es mittlerweile bestimmt Hunderttausende von Menschen, die am Gardasee ein paar Tage oder sogar ein paar Wochen verbracht haben und anschließend glücklich heimgekehrt sind, ohne auch nur eine der dreizehn Gemeinden von Tremosine zu Gesicht bekommen zu haben. Wobei wir uns sicher sind: Wer vorhat, es diesen fröhlichen Zeitgenossen gleichzutun, hätte sich unsere Gebrauchsanweisung nicht gekauft – und erst recht nicht hätte er sie bis hierher gelesen. Zweitens aber, das ist der sehr viel erheblichere Einwand, gibt es eine ganze Reihe von Menschen (einige davon kennen wir sogar persönlich), denen Tremosine mehr ans Herz gewachsen ist als irgendeine andere der Regionen am und um den Gardasee – und die gerade deswegen der Ansicht sind, Lobpreisungen in einem Reisebuch seien so ungefähr das letzte, was Tremosine wie ihnen selbst fehle.
Wir sind da wieder einmal bei einem Grundsatzproblem angelangt. Einerseits würde sich kein Mensch ein Buch wie dieses kaufen, wenn er darin nicht zumindest den einen oder anderen Hinweis auf Ziele abseits des touristischen Mainstream zu finden hoffte. Doch andererseits, und ebenso verständlicherweise, legt jeder, der von einem solchen Geheimtip erfährt, den allerstrengsten Wert darauf, daß der auch geheim bleibt – und nicht etwa einfach mir nichts, dir nichts in einem Buch veröffentlicht wird.
Reden wir nicht lange herum: Dieses Dilemma wird sich niemals wirklich zur Zufriedenheit aller Beteiligten auflösen lassen. Uns bleibt da nichts als der immer wiederholte Versuch, unseren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Im Fall von Tremosine fällt uns das allerdings gar nicht so schwer. Wir verlassen uns da einfach auf die berechenbarste Eigenschaft des Durchschnittsreisenden, nämlich sein Phlegma, das sich hier aufs Angenehmste mit der relativen Unzugänglichkeit der meisten Orte Tremosines ergänzt. Alte Regel: Wer im Urlaub ist, will sich nicht anstrengen, und will deswegen auch nicht stundenlang über enge Gebirgsstraßen kurven, zumal dann nicht, wenn ihn unterwegs nicht berühmte Kunstdenkmäler, spektakuläre Naturanblicke, Drei-Sterne-Restaurants oder andere touristische Haupt- und Staatsattraktionen erwarten. Von all dem aber, das können wir guten Gewissens behaupten, kann in Tremosine nirgends die Rede sein.
Oder jedenfalls fast nirgends. Zumindest was die Abteilung »Spektakuläre Anblicke« betrifft, müssen wir Tremosine nämlich gleich zwei davon zugestehen, die allerdings beide die Eigenschaft haben,
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