Gebrauchsanweisung für den Gardasee
neugierige Besucher zugleich anzuziehen und abzuschrecken. Das erste prunkt dabei geradezu mit seinem abschreckenden Namen – »Schauderterrasse!« – und stellt sich dann bei näherer Begegnung doch als eher ungefährlich heraus: die direkt über die 400 Meter fast lotrecht zum See abfallende Felsstufe gebaute, aber beruhigend solid vergitterte Aussichtsterrasse des südlich der Ortsausfahrt von Pieve gelegenen Hotels Paradiso. (Für Freunde des gepflegten Nervenkitzels: Die Schauderterrasse hat noch ein Gegenstück in Pieve selbst: der ebenfalls über dem Seeufer in die Luft ragende und voll verglaste Speiseraum des Hotelrestaurants Miralago.)
Genau umgekehrt verhält es sich mit Tremosines zweitem großartigem Naturschauspiel, das seine abschreckende Wirkung erst nach Kontaktaufnahme, dann aber vehement entfaltet. Auf den ersten Blick sieht es wie eine ganz normale Straße aus, die vom Gardaseeufer hinauf nach Tremosine führt – gesetzt den Fall, es gelingt einem überhaupt, diesen ersten Blick zu erhaschen. Die Schwierigkeiten, die sich dem Straßenbau hier generell entgegenstellen, haben es nämlich mit sich gebracht, daß die kleine Straße nach Pieve di Tremosine von der Gardesana occidentale nur wenige Meter hinter einem Tunnel abzweigt. Und weil die meist schnurgeraden Tunnelstrecken so ziemlich die einzigen auf der Gardesana sind, auf der man automatisch ein bißchen Gas zulegt, muß man, wenn man von Riva oder Limone herkommt, schon höllisch aufpassen, um nicht an der Abzweigung nach Pieve vorüberzurauschen, bevor man sie überhaupt zu Gesicht bekommen hat. Und dann ist es für lange Zeit zu spät: Den Rat, auf der Gardasee-Uferstraße, auf der östlichen wie auf der westlichen, nicht zu wenden, muß man gar nicht erst aussprechen, den gibt einem die Straße mit ihrer permanenten Folge von unübersichtlichen Kurven ganz von selbst. Wer hier irgendwelche Wendemanöver macht, setzt nicht nur sein Leben aufs Spiel. Daß sich immer wieder Irre finden, die es dennoch probieren und damit furchtbare Unfälle – sowie nebenbei endlose Staus – auslösen, steht auf einem anderen Blatt.
Hier, an der Abzweigung nach Pieve, böte ein kleiner Parkplatz übrigens eine Wendemöglichkeit. Im Fall des Falles hilft das aber auch nicht weiter; wer versehentlich an der Abzweigung vorüberprescht, hat ja auch den Parkplatz hinter sich gelassen. Und beging damit gleich einen Doppelfehler. Denn Abzweigung und Parkplatz liegen nur wenige Meter oberhalb eines so sonderbaren wie bemerkenswerten Ortes: des Hafens von Tremosine.
An dieser Stelle nicht nur unseres Buches, sondern auch an dieser Stelle der Gardesana occidentale werden selbst viele Tremosine-Liebhaber ungläubig den Kopf schütteln. Der Hafen von Tremosine – wie soll denn das zugehen? Schließlich wissen sie, und wissen inzwischen auch wir: Tremosine liegt, von hier aus gesehen, weit droben über unseren Köpfen, sozusagen auf dem Dach der auf breiter Front und scheinbar senkrecht zum See hin abfallenden Felswand, deren Höhe hier mehr als 400 Meter beträgt. Schon die Behauptung, daß hier eine Straße hinaufführen soll, kommt einem beim Anblick dieses schroffen Steilabsturzes vollkommen unglaublich vor. Was aber ein Hafen für einen Sinn haben soll, den eine solche Felsmauer vom nächsten bewohnbaren Ort trennt, leuchtet einem schon gar nicht ein.
Auch die Tatsache, daß dieser viele hundert Jahre alte Hafen mittlerweile kaum noch benutzt wird, löst das Rätsel nicht. Eher macht sie die Verwirrung noch größer, zumal wenn man weiß, daß die Straße vom Hafen hinauf nach Tremosine erst 1911 gebaut wurde. Und dennoch stimmt das Unglaubliche: Der kleine Hafen (wie übrigens auch sein weiter südlich gelegenes Gegenstück, der zur gleichnamigen Hochebene gehörende Hafen von Tignale) wurde vom frühen Mittelalter an bis ins 20. Jahrhundert hinein regelmäßig von Schiffen und Transportkähnen angefahren. Die für Tremosine bestimmten Lasten, die sie mit sich brachten, wurden mühselig, nicht selten auch unter Gefahr von Leib und Leben, auf schmalen Felspfaden nach oben geschleppt. Viel war es wohl nie, was auf diese Weise seinen Weg fand; aber da damals – es gab ja noch keine Uferstraße – das Wasser die einzige Transportmöglichkeit zwischen und zu den Uferorten im Norden bildete und da jene Felspfade zugleich die direkteste Verbindung zwischen Tremosine und dem See waren, mußten sich die Bewohner des Hochplateaus eben jahrhundertelang mit dem
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