Gebrauchsanweisung für den Gardasee
Wenigen zufriedengeben.
So wie die Geschichte der Natalina Arrighini Ghidotti erzählt einem also auch die ähnlich unglaubliche Geschichte dieses kleinen Hafens eine ganze Menge über Tremosine, bevor wir überhaupt dort oben angekommen sind. Wer sie ganz konkret spüren will, diese Geschichte, sollte sich die Zeit nehmen, sein Auto kurz auf den Parkplatz zu stellen und die paar Schritte zum alten Hafen hinunterzugehen. Spektakuläres gibt es da nicht zu sehen; ja, genau genommen gibt es so gut wie überhaupt nichts zu sehen, außer zwei verblüffend winzigen und allmählich verfallenden Kaimauern. Und wer ganz genau hinguckt, findet auch noch Bruchstücke jener Fundamente zweier simpel konstruierter Aufzugsanlagen, mit denen sich die Leute von Tremosine von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den Warentransport zwischen dem Hafen und Pieve erleichterten.
Genannt wurden diese Lifte einfach fili, Drähte; und sehr viel mehr waren sie auch nicht. Der erste, der »Berasi-Draht« lief mit Hilfe von steinernen Gegengewichten; er wurde 1906 durch den »Cozzaglio-Draht« ersetzt, bei dessen Betrieb Wasserfässer die Funktion der Steingewichte übernahmen. Der techno- und ökologische Vorteil dieses Systems liegt auf der Hand: Das jeweils bei der Abfahrt in die Fässer gefüllte Wasser ließ sich nach der Ankunft der Tragegondeln sehr viel unkomplizierter in den See entladen als die zuvor verwendeten Steinbrocken.
Kaimauern und zerbrochene, von Lorbeergestrüpp überwachsene Liftfundamente – diese kargen Überreste der alten Hafenanlage bezeichnen immerhin exakt die Stelle, an der sich der Porto di Tremosine befand. Heute ist es gerade die fast absurde Verlassenheit dieses einst so geschäftigen Ortes, die seinen Betrachter jäh und ohne Vorwarnung aus der Gegenwart herausreißen kann. Und dann hat man hier, nur wenige Meter unterhalb der unüberhörbar hektischen Uferstraße, das Gefühl, als stünde für ein paar Minuten die Zeit ganz still.
Nun aber Schluß mit solchen Träumereien, und zurück zum Auto! Schließlich haben wir spektakuläre Attraktionen versprochen. Und in der Tat, das wirkliche, für manche Auto- und Beifahrer sogar nervenzerfetzende Abenteuer auf dem Weg nach Tremosine beginnt erst jetzt, nachdem man die Abzweigung nicht verpaßt und damit die erste Hürde genommen hat. Zu Beginn läßt sich das Unternehmen noch moderat an: Die Straße nach Pieve windet sich zwar bald in ziemlich steilen Serpentinen empor, sie ist aber tadellos und – wenn auch knapp – zweispurig ausgebaut. Verblüffend schnell gewinnt man so Höhe; auch der erste lange Tunnel, der sich auftut, kann Geübte nicht schrecken, es sei denn, die Scheinwerfer Ihres Autos hätten gerade den Geist aufgegeben. Im Inneren dieser immerhin einen knappen Kilometer langen Röhre herrscht nämlich tags wie nachts pechschwarze Finsternis. Kein noch so bescheidenes Orientierungslämpchen weit und breit, kein Felsfenster, durch das Licht einfallen könnte – von Tunnelnotausgängen, Nothalteplätzen oder ähnlichem Sicherheitsfirlefanz selbstverständlich ganz zu schweigen; die Tunnel-Tester des ADAC, denkt man, hätten hier ihre helle respektive dunkle Freude.
Aber geschenkt, schließlich sind wir in Italien, und da sind Angströhren wie diese ja keine Seltenheit. Und noch ahnt ja, wer hier zum ersten Mal unterwegs ist, keineswegs, was ihn unmittelbar nach der Tunnelausfahrt erwartet: Aus der kleinen, aber leidlich komfortablen Straße ist plötzlich ein zwar immer noch bestens asphaltiertes, aber nun beklemmend schmales Sträßchen geworden, eingefaßt von niedrigen Steinmauern, über die hinaus der Blick – und, so denkt man unwillkürlich, im Zweifelsfall auch das Auto – in leere Abgründe fällt. Obendrein werden die gemauerten Leitplanken nun immer wieder unterbrochen, von mächtigen und scharfkantigen Felsen, die alle paar Meter unbekümmert in die Fahrbahn hineinragen, mal von links und mal von rechts. Von Zweispurigkeit kann ohnehin hier nicht mehr die Rede sein, aber das ist gar nicht das Problem. Die entscheidende Frage, die sich einem hier aufdrängt, lautet vielmehr: Wie schafft man es auch ohne Gegenverkehr überhaupt, sein Auto halbwegs heil hier durchzubugsieren?
Sehr lange kann es sich freilich auch der Ängstlichste nicht leisten, dieser Frage nachzugrübeln. Denn natürlich gibt es hier Gegenverkehr, zu manchen Tages- und Jahreszeiten zwar einigermaßen selten (was einen dann aber, wegen des bekannten
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