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Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Titel: Gebrauchsanweisung für den Gardasee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Stephan
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innere Stärke durchaus not: Im düsteren Kirchenlicht türmen sich da hinter Gittern Abertausende von Totenschädeln und anderen Gerippeteilen. Wo diese schauerlichen menschlichen Überreste herkommen, verrät einem der die liebliche Hügellandschaft weit überragende Turm von San Martino della Battaglia. Dieses monumentale und, wie in solchen Fällen üblich, monumental häßliche Denkmal erinnert an die große Schlacht von Solferino vom 24. Juni 1859, die eigentlich aus zwei getrennten Schlachten bestand: In der einen, direkt bei Solferino, schlugen Soldaten des französischen Kaisers Napoleon III. eine Hälfte der von dieser Gegend aus bis dahin ganz Oberitalien beherrschenden österreichischen Armee; in der anderen, eben bei San Martino, wurde die andere Hälfte der Österreicher von italienischen Truppen besiegt, die zwar unter französischem Oberbefehl kämpften, aber damit zugleich einen entscheidenden Grundstein für die Einigung Italiens und seine staatliche Unabhängigkeit legten.
    Der Preis dafür war freilich entsetzlich hoch: Am Ende lagen mehr als 25.000 Tote und Sterbende auf den Wiesen und Feldern dieser heute so friedvoll wirkenden Gegend, um deren Betreuung sich dann tagelang kein Mensch kümmerte – bis auf einen: den Schweizer Henri Dunant, der sich unter dem Eindruck der Nachwirkungen jener Schlacht daranmachte, die bis heute mächtigste Hilfsorganisation der Welt zu gründen, das Rote Kreuz.
    Die große, richtiger gesagt: die schreckliche militärische Vergangenheit der Landschaft südlich des Gardasees verfolgt einen aber auch in deren Osten, auf der anderen Seite des Mincio auf Schritt und Tritt. Das liegt daran, daß nicht nur die Lugana- Weinberge , sondern auch die, auf denen der Bianco di Custoza produziert wird, im Inneren eines riesigen Festungsvierecks liegen, in dem die Österreicher zwischen 1815 und 1859 ihre Truppen versammelten und von dem aus sie immer wieder auf lombardisches wie venetisches Gebiet vorstießen. Kein Wunder, daß sich auch hier eine Reihe von Gedenk- und Schädelstätten findet; die bekannteste ist das mit einem hochaufragenden Obelisken gekrönte Ossarium (»Knochenhaus«) in Custoza selbst.
    Hierher fährt man, gleich ob man von der Lugana oder direkt von Peschiera her kommt, am besten über das Flußstädtchen Borghetto mit dem höchst imposanten Ponte Visconteo, weniger eine Brücke als ein über das gesamte Bett des Mincio hinweg führender, an beiden Ufern jeweils von einem mächtigen Festungsturm bewehrter Steindamm. Wieder fasziniert einen der Kontrast zwischen kühner Festungsarchitektur und stiller grüner Landschaft ringsum, und das nicht nur beim Blick auf den Ponte Visconteo, sondern auch auf die von hier aus bereits sichtbare Scaligerburg des etwas östlich davon gelegenen Valeggio sul Mincio. Ein Aufenthalt hier lohnt sich nicht nur wegen der zahlreichen Restaurants und Weinprobierstuben, sondern auch wegen des sich vom Stadtrand aus weit ins Land hinein erstreckenden Parco Giardino Sigurtà, dem mit Abstand schönsten Englischen Garten ganz Italiens.
    Von Valeggio sind es nur ein paar Kilometer (Richtung Verona – da wollen wir ja immer noch hin) bis nach Custoza. Dort interessiert uns freilich weniger das erwähnte Beinhaus als vielmehr die unmittelbar in dessen Nähe (in der via ossario 2) gelegene Trattoria Colli Storici, in der nicht nur so herz- wie schmackhaft gekocht wird (besonders empfehlenswert die Pastagerichte mit diversen Wild- und Geflügelsaucen), sondern in der wir uns auch näher mit den Weinen der Region beschäftigen können, dem weißen, leicht aromatischen Bianco di Custoza mit seinem reizvollen leicht bitteren Nachgeschmack, oder dem aus der Nachbargegend kommenden Valpolicella.
    Wie die Trauben des jenseits des Mincio kultivierten Lugana werden übrigens auch die des Bianco di Custoza zu einem sektartigen spumante verarbeitet. Und in dem finden der Wein und die Kriegsgeschichte, die beiden beherrschenden Themen unserer kleinen Spazierfahrt durchs Hügelland im Süden des Gardasees, auf sonderbare Weise zusammen: Die cantina sociale, also die Genossenschaftskellerei von Custoza, offeriert jenen spumante unter der Bezeichnung Cuvée Radetzky. Bedenkt man, daß die Beinhäuser und Denkmäler in und um Custoza von einem aus italienischer Sicht sehr viel weniger ruhmreichen Ereignis künden (der österreichische Feldmarschall Radetzky ließ die aufständischen italienischen Truppen im Juli 1848 bei Custoza erbarmungslos

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