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Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Titel: Gebrauchsanweisung für den Gardasee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Stephan
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niederkartätschen), kommt einem diese Bezeichnung überraschend wenig lokalpatriotisch, ja geradezu absurd vor. Indessen, der wahre Lokalpatriotismus sitzt halt im Geldbeutel: An die 90 Prozent der Sektkäufer in Custoza sind deutsche Touristen, und deutsche Touristen stehen nun einmal auf den Radetzkymarsch …
    Wir wenden uns nun lieber anderen musikalischen Genüssen zu und steuern über das mittelalterliche Villafranca – und anschließend, fürs letzte Stück nun doch über die Autobahn – direkt auf die Arena von Verona zu.
    Apropos Arena: Kaum ein Reisender weiß, daß die weltberühmte römische Arena di Verona nicht die einzige Arena in Verona ist, und schon gar nicht die älteste. Die heutige Opernarena entstand erst Ende des dritten Jahrhunderts; doch gleich, nachdem Veronas Bürger unter Julius Cäsar das römische Bürgerrecht erhalten hatten, begannen sie mit dem Bau ihres ersten Theaters. Dieses Teatro Romano liegt nicht im heutigen Zentrum, sondern etwas nördlich davon auf den Abhängen des linken Etschufers. Nachdem die neue und größere Arena fertiggestellt war, verfiel das Teatro Romano allmählich und wurde schließlich, wie viele altrömische Gebäude, vorn Ende der Antike an als eine Art Steinbruch genützt, aus dem die Leute sich das Material für Neubauten beschafften. Trotzdem ist ein beträchtlicher Teil dieser ersten Veroneser Arena bis heute erhalten geblieben.
    Doch nicht nur diese eindrucksvolle (und dennoch vom touristischen Massenandrang weitgehend verschont bleibende) Ruine selbst, auch der wunderbare Blick, den man von hier aus auf das dem Betrachter direkt zu Füßen liegende mittelalterliche Zentrum von Verona (inklusive der großen Arena) hat, empfehlen das Teatro Romano als möglichst erstes Anlaufziel für alle, die vor oder nach dem Opernspektakel auch diese erste wirklich italienische Großstadt jenseits der Alpen zumindest ein wenig kennenlernen wollen. Und sogar denen, die partout auf Spektakel und nur auf Spektakel versessen sind, hat das Teatro Romano etwas zu bieten: Auch hier oben finden nämlich alljährlich Sommerfestspiele statt, nicht mit großen Opern zwar, aber mit Gastspielen internationaler Tanzensembles, die den hauptsächlich als Lückenfüller zwischen den Opernabenden dienenden Ballettabenden in der großen Arena künstlerisch locker den Rang ablaufen, mit Auftritten prominenter europäischer und amerikanischer Jazzensembles, und mit den Aufführungen des vor allem den Werken Shakespeares gewidmeten Veroneser Theatersommers.
    Warum da Shakespeare im Mittelpunkt steht, muß man keinem erklären. Nichts hat, lange vor und neben den Opernfestspielen, die Stadt so populär gemacht wie Shakespeares Liebestragödie »Romeo und Julia«. Daß es sich bei dieser Geschichte um eine reine, durch keine historische Realität, ja nicht einmal durch eine lokale Legende gestützte literarische Fiktion handelt, tut dabei nichts zur Sache. So gesehen ist die Verknüpfung Veronas mit Romeo und Julia einer der schönsten Beweise für die Macht der Literatur: Es genügte völlig, daß Shakespeare aufs Geratewohl behauptete, sein Stück spiele in Verona, und daß er sich aus der »Göttlichen Komödie« des während der Zeit seiner Verbannung aus Florenz in Verona lebenden Dante Alighieri die Namen der beiden in die Tragödie verstrickten Familien – Capuletti und Montecci – entlieh, aus denen bei ihm Capulet und Montague werden.
    Wo es also weder den berühmten Romeo noch seine Julia gab, kann es auch keinen »Balkon der Julia« geben. Was aber Hunderttausende von Touristen pro Jahr nicht davon abhält, im Innenhof eines an der via Caputeti gelegenen Stadthauses ehrfürchtig eben jenen Balkon zu besichtigen. Nicht nur Veronas Stadtoberhäupter wissen eben: Die Leute sehen am liebsten nicht das, was sie tatsächlich sehen können, sondern was sie sehen wollen. Und so ließ ein findiger Stadtrestaurierer zu Anfang des 20. Jahrhunderts den Balkon nachträglich an der mittelalterlichen Hausfassade anbringen. Die makaber-witzige, wenn auch weithin unbekannte und gar nicht beabsichtigte Pointe dabei: Was nun als »Balkon der Julia« bestaunt wird, war einmal ein im Depot des Stadtmuseums nutzlos herumstehender Steinsarg – und eben ein Sarg wird ja bei Shakespeare zur letzten Behausung seines fiktiven Liebespaares.
    Nur ein paar Schritte vom angeblichen Julia-Haus entfernt liegt eine andere populäre touristische Attraktion Veronas, die piazza erbe. Die gibt es wirklich, und

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