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Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Gebrauchsanweisung für den Gardasee

Titel: Gebrauchsanweisung für den Gardasee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Stephan
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dagegen weitläufig, daß nicht allein griechische und römische Altertümer, sondern auch die der mittlern Zeit Aufmerksamkeit verdienten. Ihnen sei freilich nicht zu verargen, daß sie an diesem von Jugend auf gekannten Gebäude nicht so viele malerische Schönheiten als ich entdecken könnten. Glücklicherweise setzte die Morgensonne Turm, Felsen und Mauern in das schönste Licht, und ich fing an, ihnen dieses Bild mit Enthusiasmus zu beschreiben. Weil aber mein Publikum jene belobten Gegenstände im Rücken hatte und sich nicht ganz von mir abwenden wollte, so drehten sie auf einmal, jenen Vögeln gleich, die man Wendehälse nennt, die Köpfe herum, dasjenige mit Augen zu schauen, was ich ihren Ohren anpries, ja der Podestà selbst kehrte sich, obgleich mit etwas mehr Anstand, nach dem beschriebenen Bilde hin.«
    Mit anderen Worten, Goethe lehrte die Leute von Malcesine, ihre Heimat nicht länger mit ihren eigenen Augen zu sehen, sondern mit denen des herbeigereisten Touristen aus Deutschland. Exakt diese Situation – und nicht etwa die bloße Anwesenheit Goethes – markiert wohl tatsächlich die Geburtsstunde des Fremdenverkehrs am Gardasee. Die böse Pointe dabei: Liest man Goethes Text ganz genau, bemerkt man, daß er persönlich die Burg von Malcesine keineswegs so attraktiv fand, wie er es die Leute glauben machte. Er verhielt sich nur wie ein PR-Stratege. Zuerst verunsicherte er das Geschmacksurteil der Einheimischen, dann bediente er ziemlich zynisch deren nostalgisches Dekorationsbedürfnis, und zuletzt forderte er sie kaum verhüllt auf, seinem Vorbild nachzuahmen und daraus touristischen Profit zu schlagen. Und so, weil er schon einmal dabei ist, erklärt er gleich auch noch den Efeu, der die verfallenden Burgmauern umrankt, zur Sehenswürdigkeit: »Diese Szene kam mir so lächerlich vor, daß mein guter Mut sich vermehrte und ich ihnen nichts, am wenigsten den Efeu schenkte, der Fels und Gemäuer auf das reichste zu verzieren schon Jahrhunderte Zeit gehabt hatte.«
    Und der Trick funktionierte. Die gleichen Leute, die noch kurz zuvor nicht verstehen konnten, was zum Teufel denn an ihrem Malcesine und seiner Burg so Besonderes sei, verabschieden Goethe nun wie gelernte Fremdenverkehrswerber: »Wir wollen ihn freundlich entlassen, damit er bei seinen Landsleuten Gutes von uns rede und sie aufmuntere, Malcesine zu besuchen, dessen schöne Lage wohl wert ist, von Fremden bewundert zu sein.«
    Wir aber – fallen wir am Ende auch nur dem gleichen Trick zum Opfer? Kann es etwa sein, daß wir uns Malcesine und seine Scaligerburg nur allzugern schönreden lassen – und sei es nur, weil wir zu bequem sind, uns ein eigenes Urteil zu bilden, unseren Kopf und unsere Wahrnehmungssinne unbeeinflußt zu gebrauchen? Ja natürlich, das sind sehr akademische Fragen. Niemand kommt ja mehr unbefangen hierher wie in ein Land, das vor ihm noch kein Fremder betreten hat, im Gegenteil: Die Bilder, die wir hier – und sei es zum ersten Mal – vor Augen sehen, sind zugleich schon von den Blicken Hunderttausender von Vorgängern geprägt. Was da noch eigenes Urteil ist, was überzeugtes Nachvollziehen von fremden Urteilen, was bloßes Nachplappern und was gar nur Illusion ist, läßt sich so gut wie nie befriedigend auseinanderklamüsern.
    Vollends zum Scheitern verurteilt wäre der Versuch, die verlorene Unbefangenheit des eigenen Blicks ausgerechnet in Malcesine wiederzugewinnen. Das nicht nur deswegen, weil die Ruine von damals längst wieder zur prachtvoll-mittelalterlichen Burg renoviert worden ist, mit einem eigenen Goethe-Gedächtnis-Raum selbstverständlich, sondern auch und vor allem, weil der vom Vormittag bis in die späten Abendstunden unablässig von Touristenscharen durchströmte Ort mit seinen historischen Altstadtgäßchen, seinen netten kleinen Plätzen und seinen zweifellos pittoresken Häusern, Innenhöfen und Tortürmen heute so wirkt wie eine Art italienisches Rothenburg ob der Tauber, dem Hunderte von Souvenirläden, Ramschgeschäften und Edelboutiquen den Rest geben.
     
    So wird, auch wenn alles hier echt ist, aus Goethestädtchen im Handumdrehen Disneyland. Wir haben mehr als einmal versucht, diese Entwicklung wenigstens in unserer Vorstellung umzukehren und Malcesine so zu sehen, wie es früher einmal ausgesehen haben mag. Doch bis jetzt mündete noch jeder dieser Versuche nur in einem Wunsch: nichts wie raus hier!
     

4. Endlich allein
oder Wie Mönche fernsehen
     
     
     
    » Ecco « , sagt

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