Gebrauchsanweisung für den Gardasee
Lorenzo, » ecco la televisione! « Italienisch für Anfänger: la televisione, das Fernsehen. Nur daß hier weit und breit kein Fernsehgerät zu sehen ist, kein Wunder, wir stehen im Freien, 305 Meter über dem Meeresspiegel, aber vom Meer ist auch nichts zu sehen. Was vor uns, unter uns liegt und fast wie ein Meer aussieht, ist in Wahrheit der See, der sich von hier aus nach links hin, Richtung Süden, jäh und sozusagen maßlos verbreitert, während er rechts, nach Norden, immer schmaler wirkt, wie ein Fjord, um allmählich unter hohen Felswänden zu verschwinden.
Das Haus, in dessen Garten Lorenzo uns geführt hat, zählt ein knappes Dutzend ständige Bewohner; doch auch im Innern des Hauses steht nirgendwo ein Fernseher. Haus ist übrigens ziemlich untertrieben. Es ist ein ganzer Gebäudekomplex, der den fast direkt vom Ostufer des Gardasees aufragenden Berggipfel des Monte San Giorgio krönt. Von einem Kranz dunkler Zypressen wie von einer natürlichen Mauer umgeben, ducken sich drei Reihen von je vier aus bräunlich-weißem Stein gebauten, von grauen Schindeln gedeckten Hauszellen, zwei Wirtschaftsgebäude und einige Schuppen im Schatten eines hochaufragenden Kirchenschiffes: eine Klosteranlage also, oder noch genauer, ein eremo, eine Einsiedelei. Denn es sind ganz besondere Mönche, die hier (übrigens seit Mitte des 17. Jahrhunderts) auf dem Monte San Giorgio leben: die Kamaldulenser.
Was es mit dieser Gemeinschaft auf sich hat, erklärt uns Fra Lorenzo, der sich mit einem anderen der zehn zur Zeit dort oben lebenden Mönche (von denen lediglich drei geweihte Priester sind) in der Betreuung der Besucher ablöst. Wobei diese sich unter Betreuung nichts direkt Überschäumendes vorstellen sollten; auch als Gastgeber hält sich Fra Lorenzo am liebsten an die Eremitentugend des Schweigens, sich selbst wie den Gästen zuliebe, die sich hier im Kloster für ein paar Tage einquartieren können.
Frömmigkeit wird dabei von keinem und – auch Frauen sind willkommen – von keiner verlangt; es reicht, wenn sich die Besucher an die Hausordnung halten: aufstehen um halb sechs, um sechs Frühmesse, drei weitere Andachten täglich (der Choralgesang, den die Mönche dabei anstimmen, läßt auch die stimmungsvollsten Meditations-CDs ziemlich alt aussehen), drei karge Mahlzeiten, Hüttenruhe ab 20 Uhr 30. Versteht sich im übrigen, daß dies nur das abgemilderte Besucherprogramm ist; die Mönche selbst haben sechs (stille) tägliche Andachten mehr zu absolvieren, und den Langschläferluxus, erst um halb sechs aufzustehen, leisten sie sich allenfalls, wenn sie sehr krank sind. Die Ernsthaftigkeit bei der Befolgung dieser Regeln, sagt Fra Lorenzo, sei von Anfang an typisch für die Gemeinschaft der Kamaldulenser gewesen, die sich vor knapp tausend Jahren innerhalb des Benediktinerordens bildete, um sich noch strenger als die anderen, schon damals tatkräftig mit der Welt verbundenen Benediktiner dem ursprünglichen mönchischen Ideal der Einsamkeit zu verschreiben.
Mit anderen Worten: Es sind radikale Einsiedler, die sich dort oben angesiedelt haben, ausgerechnet dort, keine 2000 Luftlinienmeter entfernt vom Städtchen Garda und seiner Tag und Nacht von Besucherströmen überfluteten, mit Dutzenden von Bars, Ristorantes und Discos bestandenen Hafenpromenade. Am Abend, wenn der Wind vom See kommt, hört man den Lärm der Promenade auch auf dem Monte San Giorgio; aber man hört ihn als dünne, weit draußen in der Ferne vorüberziehende Geräuschfetzen, die vor allem eines bewußt machen: die tiefe Stille, in der diese Einsiedelei zu Hause ist.
Und merkwürdig: Auch der nicht nur im Sommer von Hunderttausenden besuchte Gardasee zu unseren Füßen, samt all seinen dichtbevölkerten und von zwei der verkehrsreichsten Staatsstraßen Italiens miteinander verbundenen Uferorten, wirkt trotz seiner Größe von hier oben gesehen wie eine einzige Oase des Friedens. So, als eine Art Idyll im Breitwandformat, läßt sich die Welt recht gut ertragen, nicht nur für Eremiten, aber eben auch für sie. Italienisch für fromme Einsiedler: la televisione, die Fernsicht.
Unsereinem, dem reisenden Laien, beschert der vollkommen entspannte Blick vom Eremo di Monte San Giorgio darüber hinaus ein Erweckungserlebnis der speziellen Art: Wir fühlen uns in die Epochen vor dem Beginn des Massentourismus zurückversetzt – und verstehen auf einmal, wieso der Gardasee lange Zeit als besonders exklusives, um nicht zu sagen als mondänes Reiseziel
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