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Gebrauchsanweisung fuer Indien

Titel: Gebrauchsanweisung fuer Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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wirtschaftliche Schäden Gujarat erlitten habe – schätzungsweise dreißig Milliarden Euro –, wird oft übersehen, daß die moslemischen Eigentümer den Großteil dieses Verlustes zu tragen haben und ihre Hindu-Rivalen langfristig davon profitieren werden. Die Mehrheit hat mit einem Schlag die größte Minderheit enteignet. Das erklärt die enge Zusammenarbeit zwischen der Verwaltung und Privatleuten etwa aus der Baubranche, die das geräumte Land in dicht besiedelten Vierteln neu entwickeln können.
    Die am schlimmsten von Unruhen betroffenen Städte in Indien, neben Ahmedabad vor allem Kanpur am Ganges, haben als industrielle Zentren eine kontinuierliche Verelendung erfahren – in den letzten fünfzig Jahren ist die Zahl der beschäftigten Bevölkerung in Kanpur um mehr als fünfzehn Prozent gefallen. In solchen Metropolen hat sich in den letzten drei Jahrzehnten ein ›Hindu-Moslem-Aufruhrsystem‹ (Paul Brass) entwickelt, das fest in das Gefüge der Gesellschaft installiert ist und von den Machteliten jederzeit für ihre Interessen manipuliert werden kann. Gleichzeitig hat sich die indische Parteienlandschaft zersplittert; einerseits wird politisch um verschiedenste Sonderinteressen gebuhlt, andererseits versuchen die Kräfte der ›Sangh Parivar‹, die Verunsicherung und Angst der Menschen angesichts moderner Diskontinuitäten und Katastrophen mittels einer Propaganda revanchistischer Monokultur auszunutzen.

    Ist Indien ein wundersames Fabelwesen, ein schmutziger Barbar oder ein unschuldiges Adoptivkind? Im Verhältnis zwischen dem Westen und Indien herrscht besonders viel Maya vor. Falsche Spiegel, Trompe l’œils, Maskenspiele: Der westliche Blick weiß schon lange nicht mehr, was er sieht, was er zu sehen glaubt und was er zu sehen wünscht, und die Selbstwahrnehmung Indiens, in all ihrer Fragmentierung, orientiert sich oft unbewußt an den Projektionen der Europäer. Indien ist andererseits irrational, Europa einerseits rational. Indien ist das Urland der Spiritualität, eine mystische Region, durchtränkt von uralten Traditionen, mit anderen Worten: nackte Fakire, magische Seile, geschmückte Elefanten und so weiter und so fort.
    Im 18. Jahrhundert, als das Projekt der Welteroberung politisch noch nicht durchdacht war, beschäftigten sich viele britische Angestellte der Ostindischen Gesellschaft ernsthaft und respektvoll mit den indischen Kulturen, allen voran der umtriebige William Jones, der mit einigen Gleichgesinnten aus der ›Asiatic Society of Bengal‹ eine Reihe klassischer Sanskrit-Texte ins Englische übersetzte und kommentierte. Es gab viele Entsandte, die sich der einheimischen Kultur anpaßten, sich mit einer indischen Geliebten arrangierten, wenn sie nicht sogar eine Einheimische ehelichten, sich der lokalen Mode gemäß kleideten und sogar in hinduistische oder islamische Glaubenswelten übertraten.
    Doch kaum brach das imperiale Zeitalter an, schien Sympathie suspekt und Nähe gefährlich. Englische Frauen wurden in rauhen Mengen nach Indien verschifft (eine hervorragende Aufstiegschance für Frauen aus niederen Schichten), es entstanden britische Ghettos (die cantonments, deren Spuren man heute noch in jeder größeren indischen Stadt anhand des rechtwinklig und ordentlich angelegten Straßennetzes erkennen kann), und die britischen Intellektuellen beeilten sich, in vorauseilendem Gehorsam die Unterwerfung dieses gewaltigen Reiches zu rechtfertigen.
    Das ließ sich am einfachsten bewerkstelligen, indem man Indien kulturelle Eigenleistung und zivilisatorische Tradition absprach. James Mill – Vater des berühmteren John Stuart Mill – veröffentlichte 1817 ein dreibändiges Machwerk mit dem Titel ›History of British India‹, worin er Indien jegliche kulturelle oder wissenschaftliche Leistung aberkannte und aus seinem schottischen Sessel heraus zu dem Resultat gelangte, das Land sei durch und durch primitiv, und somit sei das British Empire geradezu verpflichtet, Indien zu seinem zivilisatorischen Glück zu zwingen. William James wurde gescholten, weil er »Hindus als Teil einer hochstehenden Zivilisation beschrieben hat, während sie in Wirklichkeit kaum mehr als die allerersten Schritte in der Entwicklung zur Zivilisation unternommen haben.« In diesem frühimperialistischen Werk sind auch die ersten Keime des Rassismus gepflanzt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgehen sollten: »Unsere Vorfahren waren rauh, aber ehrlich; hinter der glitzernden Oberfläche

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