Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg
universitären Einrichtungen das Max-Planck-Institut für Molekulare Pflanzenphysiologie und Forschungsinstitute der Biotechnologie oder der Gravitationsphysik beherbergt. Und um die nationale Gravitation zu überlisten, ist die Forschungsstätte per Bahn direkt an den neuen Willy-Brandt-Flughafen angeschlossen. In einigen Instituten kommt nämlich bereits die Hälfte aller Mitarbeiter aus dem Ausland. So weht auch hier der Duft der großen weiten Welt durch die Hintertür nach Potsdam hinein. Vom Dorf. Nur die Geisteswissenschaften werden, wie es aussieht, hier nicht mehr so dringend gebraucht.
Sein östliches Pendant findet Golm auf dem Telegrafenberg. Auf diesem Hügel im Potsdamer Forst richtete Friedrich Wilhelm III. zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine optische Telegrafenstation ein, die mit ihrem Telegrafenmast für die Nachrichtenübertragung auf der »Preußischen Staatstelegrammlinie« von Berlin nach Koblenz sorgte. Schon Ende des 19. Jahrhundert entwickelte sich daraus ein Wissenschaftsstandort. Man wollte in die Welt und ins All schauen. In klassizistischen Klinkergebäuden inmitten einer englischen Gartenanlage weihte Kaiser Wilhelm II. 1899 ein Linsenteleskop ein, den Großen Refraktor, der vor Kurzem restauriert wurde und noch immer das größte Linsenteleskop Deutschlands ist. Wenig später kam ein Spektrometer zur Sonnenbeobachtung dazu, das sich im spektakulärsten Gebäude der Anlage befindet, dem Einsteinturm.
Der Telegrafenberg liegt zentral. Schräg gegenüber vom Bahnhof. Trotzdem habe ich vier Jahre gebraucht, ehe ich zum ersten Mal dort war. Der Telegrafenberg wird überschattet vom festungsartigen, Furcht einflößenden Bau der »Kriegsschule« auf dem Brauhausberg. In diesem rostroten Backsteinbau war zwanzig Jahre lang der Landtag untergebracht. Ich hatte nie den Mut, den Brauhausberg zu umrunden. Ich fuhr immer nur schnell an ihm vorbei. Unheimlich ragt der Turm mit einer überdimensionierten Uhr über der Stadt auf. Selbst bei Sonne schlucken die Gemäuer das Licht, und ich wusste, käme ich ihnen zu nah, würde ich in einen Sog geraten und die Orientierung verlieren. (Lesen Sie Das Schloss von Kafka, und Sie wissen, was ich meine.)
Während auf der rechten Seite hinter der Havel das Filmmuseum und die barocken Gebäude vom Alten Markt herüberleuchten, verbreitet der Brauhausberg zur Linken unheimliche Grabesstimmung. Schon die Bahnhofshässlichkeit schlägt aufs Gemüt. Ist man dem Bahnhofsklotz entkommen, steht man vor einem halb entkernten Mehrzweckbau. Er rottet am Fuß des Brauhausberges vor sich hin. Schwarze Hammer-und-Sichel-Graffiti prangen auf dem Beton. Fenster, an denen einmal Buletten, Bockwurst und Pelmeni verkauft wurden, sind geborsten oder vernagelt. Von den Röhren einer Leuchtanzeige ist ein Wortskelett geblieben: Minsk. Bauzäune umgeben die Reste dessen, was einmal eine belorussische Nationalitätengaststätte war. Eine Birke wächst in den Rissen zwischen den Terrassenplatten. Sie wurzelt direkt im Bunker aus dem Kalten Krieg, der unter dem Exlokal noch immer intakt ist, noch immer zweihundert Leute schützen könnte. Im Schwimmbad nebenan kreischen Kinder. Und über allem kreisen riesig die Uhrzeiger der alten Kriegsschule.
Ganz anders der Einsteinturm auf dem Telegrafenberg. Er sieht aus wie ein von Dali gemaltes, kieloben liegendes Schiff; eine berauschende architektonische Verrücktheit. Licht, weiß und nicht ganz real leuchtet das Gebäude zwischen den Bäumen durch. Es scheint zu schweben. Man hat den Eindruck, hinter den nüchternen Klinkerbauten aus der Welt getreten und hineingeraten zu sein in eine andere Dimension, in der die Zeit flüssig wird, in der Bauwerke keine Drohgebärde brauchen und keine Statik, in der sie allein durch ihre Schönheit zusammengehalten werden. Für den von Erich Mendelsohn im expressionistischen Stil entworfenen, einsturzgefährdeten Bau hätte kein besserer Standort gewählt werden können. Der Einsteinturm ist umgeben von Instituten, die sich mit dem Zusammenhalt von Erde und Kosmos beschäftigen und kleinste Erschütterungen schon registrieren, bevor sie überhaupt stattfinden. Er ist bestens geschützt. Die Mitarbeiter des GeoForschungsZentrums beschäftigen sich mit Tsunamis, Erdbeben und Vulkanausbrüchen weltweit. Die Kollegen am Astrophysikalischen Institut verfolgen die Entwicklung der Sterne. Ein wissenschaftliches Aushängeschild ist auch das Institut für Klimafolgenforschung, nicht nur weil hier
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