Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg
erhöhten Hinterzimmer verbindet, sieht man nicht. Sie sind für die Dauer des Tulpenfests zu Berliner Freunden geflüchtet. Die Handwerker, die Friedrich Wilhelm I. damals anlocken wollte, blieben übrigens aus. Stattdessen zogen seine Soldaten in die neu errichteten Gebäude, die zu Wendezeiten von Hausbesetzern, Künstlern und Denkmalpflegern vor dem Verfall gerettet wurden.
In der Stadtschlossproblematik sind sich Berlin und Potsdam sehr nah. Allerdings war das Potsdamer Schloss schneller fertig. Den Berlinern geriet der Bau ins Stocken, weil sie wie häufig – so der Gedanke in Brandenburg – den Mund zu voll genommen hatten. Das sagte man natürlich nicht laut. Das hatte man aber im Hinterkopf, was dazu führte, sich noch mehr ins Zeug zu legen und sich innerlich erneut zu gratulieren, dass man kein Berliner geworden ist.
Zugegeben: Manchmal bin ich froh über die Berlinnähe. Das begann zu DDR-Zeiten, als die Anziehungskraft der Großstadt durch die Mangelwirtschaft noch verstärkt wurde. In Berlin bekam man Waren zu kaufen, von denen man im Rest des sozialistischen Landes nur träumen konnte. Man lebte an den Rändern Berlins wie die Mistel auf der Pappel; eine Erscheinung, die besonders im Herbst an den Ufern der Brandenburger Kanäle oder entlang der Alten Oder schön zu beobachten ist. Die Brandenburger saugten Berlin auf wie die Misteln den Pappelsaft. Sie nahmen weite Reisen in Kauf, um eine Melone oder ein Netz Apfelsinen, Vanillemilch-Tüten oder Schokoladenweihnachtsmänner zu ergattern. Und mit einem Trabant war jede Reise weit, besonders auf Kopfsteinpflaster. Wer aus dem westlich gelegenen Rathenow oder Wittstock kam, musste ganz Westberlin umfahren, ehe er von östlicher Seite aus in die gelobte Stadt vordringen konnte.
Heute betrifft der Mangel im Umland das Nachtleben und die Arbeitsplätze. Bei der Suche nach Arbeit ist die Nähe zu Berlin nicht hilfreich. Die Aussichten sind dort genauso trübe. Ins Nachtleben allerdings findet man sich schnell hinein. Wenn es droht, gesundheitsschädigend zu werden, kann man sich ebenso schnell wieder dahin zurückziehen, wo die Nacht am besten mit Schlafen verbracht wird; aufs Land. Dass sich die Brandenburger die Möglichkeit des Rückzuges offenhalten, merkt man ihnen an. Eine Brandenburgerin im Berliner Nachtleben fällt auf.
Zunächst fällt sie auf, weil ihr Polo das Kennzeichen MOL oder BAR, PM oder GUB trägt, was Berlinern immer wieder Anlass zu Verunglimpfungen bietet: BAR (Barnim) = Bauer auf Reisen. MOL (Märkisch Oderland) = Meine Oma lenkt. PM (Potsdam-Mittelmark) = Pennmaschine. GUB (Guben) = Gehirnlos und Blind. Die Brandenburgerin fällt auf, weil ihrem Polo, kaum hat er gehalten, fünf weitere Insassen entsteigen, die sich erst wieder geschlechter- und gliedmaßenmäßig sortieren müssen, ehe sie an den Türstehern vorbeikommen. Sie fällt auf, weil sie sich entweder zu zaghaft oder zu gierig ins Getümmel stürzt. Zaghaft ist sie, weil sie die Rückfahrt im Kopf hat, immer wieder verstohlen auf die Uhr sieht und sich Wasser ins alkoholische Getränk schüttet. Gierig ist sie aus demselben Grund, den sie aber aus Leibeskräften verdrängt, da sie, wo sie schon mal hier ist, auch so viel wie möglich von der Party haben möchte. Um dieses Missverhältnis auszugleichen, trägt sie Pumps, die einen besonders hohen Absatz haben oder Lidschatten einer besonders grellen Farbe, oder sie hat sich die Strähnchen diesmal besonders bunt in ihre Frisur hineinwaschen lassen. Ihre Clique oder – je nach Alter – Truppe trinkt inzwischen Lumumba, Bananenbier oder Rotkäppchensekt. Wenn der Abend besonders gut läuft, lernt sie den Besitzer eines tiefer gelegten Golf kennen, der sich gerade den Bauernhof seiner Eltern ausbaut. Fortan werden sich die Abstecher ins Nachtleben häufen, bevor sie dann rapide abnehmen und man dem örtlichen Kegelklub beitritt.
Kurz: Ohne Berlin würden die Brandenburger wirklich aussterben. Der übers Land verstreute Nachwuchs hätte kaum Gelegenheit, sich zu beäugen, und die Fortpflanzung wäre ernsthaft bedroht.
Die Berlinnähe ist für die Brandenburger außerdem günstig, weil die vom Großstadtlärm geplagten Hauptstadtbewohner eine ihrer Haupteinnahmequellen sind. Wer würde sonst im Sommer die Bratwurstbuden und Hofläden, die Fahrgastschiffe und Eisdielen bevölkern? Leider ist das Nummernschild mit dem großen I, an dem man die Berliner zu DDR-Zeiten sofort erkannte, in den Wendewirren verloren
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