Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg
ersten Theatergebäude Deutschlands ein.
Vor einigen Jahren noch hätte man mich auch mit Geld nicht nach Schwedt locken können. Schwedt, das war der Inbegriff von deprimierender Hässlichkeit. Das war graues, eisiges, zwölfgeschossiges Arbeiterghetto. Das war ein großes Wohnklo, in dem sich nach dem Matroschka-Prinzip unzählige kleine Wohnklos drängten. Wohnklos wurden die hellhörigen Plattenbauwohungen genannt. Der Sozialismus kümmerte sich nicht um individuelles Wohlbefinden. Er brauchte Wohnraum für seine Arbeitskräfte in der Papierfabrik und im Erdölverarbeitungswerk, das direkt an die Erdöltrasse »Druschba-Freundschaft« angeschlossen war und Kraftstoff produzierte. Schwedt, einst bevorzugter Wohnsitz von Kurfürstin Dorothea, der zweiten Frau des Großen Kurfürsten (Friedrich Wilhelm), und seit Einwanderung der Hugenotten auch Zentrum des uckermärkischen Tabakanbaus, war als sozialistische Vorzeigestadt zur ästhetischen Nullnummer geworden. Nach der Wende bedeutete der Name Schwedt vor allem eines: Alle wollen weg. In den identischen Betonschachteln wollte kein Mensch mehr leben. Das Personal der Betriebe wurde zusammengestrichen, Zehntausende Menschen wanderten ab. 1998 stand jede fünfte Wohnung leer.
Schwedt ist kein Einzelfall. In Eisenhüttenstadt oder Frankfurt/Oder standen ähnliche Plattenbau-Altlasten. Schwedt hat das Problem brandenburgischer Industriestädte als Erstes auf kluge Weise zu lösen versucht. Statt den Leerstand wegzusprengen und Brachen zu hinterlassen, ging Schwedt einen gefährlichen Weg. Die Stadt brachte Wohnungsbaugesellschaften und Mieter miteinander ins Gespräch. Man suchte gemeinsam nach der besten Möglichkeit, »von außen nach innen zurückzubauen« und ein lebenswertes Stadtbild zu schaffen. Das bedeutete Unsicherheit. Das bedeutete, dass Leute aus ihren eingewohnten Wohnungen aus- und wenige Meter weiter in eine sanierte, fremde, uneingewohnte Wohnung einziehen mussten. Die neu installierte Küche, das soeben gelieferte, erste West-Schlafzimmer mussten ausgebaut, umgezogen und neu eingebaut werden in einem Haus, von dem nicht immer geklärt war, ob es am Ende nicht auch »zurückgebaut« werden würde. Eingelebte Hausgemeinschaften wurden zugunsten einer abstrakteren Stadtgemeinschaft auseinandergerissen. Damit die Menschen über solche schockartigen Eingriffe ins gelebte Leben miteinander reden konnten, was häufig sehr laut geschah, schuf man Mieterplattformen. Die Stadt traf sich in frei geräumten Sporthallen. Nach einer Weile wurde klar, dass es mehr Sinn hatte, Vorhandenes neu zu gestalten, als die Stadt aufzugeben. Schließlich war Schwedt eine der wenigen übrig gebliebenen »industriellen Kerne« Brandenburgs. Papierfabrik und PCK-Raffinerie produzieren auch heute noch. Man beschloss, die Plattenbauten der Wohnkomplexe aus den Siebziger- und Achtzigerjahren zu lichten. Der Blick ins Grüne sollte sich weiten. Die oberen Stockwerke wurden geköpft, großzügig überdachte Eingänge geschaffen, die Wohnungen vergrößert. Viele schauten trotzdem weg, wenn sich die hydraulische Betonschere in den Beton ihres vertrauten Heimes fraß, der so hartnäckig war, dass selbst Abrissbirnen nichts gegen ihn ausrichten konnten. Auch der Beton wollte, dass alles beim Alten blieb. Aber durch die Neuerungen verließen immer weniger Menschen die ausgedünnte, begrünte Stadt, und heute können die, die noch da sind, einen von ABM-Kräften angelegten Uferradweg benutzen, wenn sie zur Arbeit fahren. Schwedt bekam für diesen gelungenen »Stadtumbau Ost« eine Medaille.
In Wittenberge, der größten Stadt der Prignitz, sind die drei großen Werke stillgelegt. Wer an der Elbe entlang in den Ort hineinradelt, fährt kilometerlang durch Industrieruinen. Aber Wittenberge hat einen Jungunternehmer. Jungunternehmer sind die Hoffnung einer Region. Außerdem ist dieser Jungunternehmer ein Rückkehrer. Und Rückkehrer sind selten. Händeringend wird um sie geworben, denn Rückkehrer sind gut ausgebildet. Sie haben in der Fremde Lebenserfahrung gesammelt und nützliche Spezialkenntnisse, sie fühlen sich dem Ort ihrer Herkunft verpflichtet, gründen eine Familie und senken damit den Altersdurchschnitt einer Stadt. Sie sorgen dafür, dass Kinder auf der Straße spielen und sich Einzelhandelsunternehmen ansiedeln, die etwas anderes anbieten als orthopädische Schuhe und Hörgeräte. Der junge Wittenberger Unternehmer musste nicht lange geworben werden. Er wollte zurück. Mit
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