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Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg

Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg

Titel: Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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vierundzwanzig Jahren kaufte er das unter Denkmalschutz stehende Fabrikgelände der ehemaligen Ölmühle.
    Salomon Herz hatte die Ölmühle Anfang des 19. Jahrhunderts an der Elbe gegründet und Wittenberge ins Zeitalter der Industrialisierung katapultiert. Nach der Wende konnte die hiesige Schmierölproduktion mit den Weltmarktpreisen nicht mehr mithalten. Die Mühle wurde geschlossen. Der Jungunternehmer hatte die Vision, ein Wittenberger »Eventzentrum« zu gründen. Dafür nahm er einen Kredit auf, dessen Höhe mir schlaflose Nächte bereiten würde. Innerhalb weniger Jahre entstanden in den Gebäuden aus der Gründerzeit unter Einhaltung der Denkmalschutzauflagen nicht nur Hotel, Brauhaus, Kletterhalle und Strandbar, sondern auch eine Ausstellung über die ehemalige Mühle. Ein DDR-Arbeiter ist mit Brotbüchse bei der Mittagspause zu sehen. Von einem bayerischen Gast wird die Wachsfigur so kommentiert: »Jo, mei. Schaua moa, so oa fauloa sozialistischoa Arbeitoa.«
    Der Jungunternehmer setzt auf den Elberadweg, der ihm Touristen bringen soll, er setzt auf die »Tour de Prignitz«, er setzt auf seine Kumpels aus Schulzeiten; auch sie sollen hierher zurückkehren, so wie der Braumeister, der 1986 als einer der letzten in Wittenberge noch das Bierbrauen gelernt hatte, wieder aus Lübeck zurückkehrte. Und vielleicht setzt er auch auf die unterirdischen Geheimgänge. Sie führen in die anliegenden Industriegelände und sind teilweise zugemauert. Nebenan wurden Anfang des 20. Jahrhunderts Nähmaschinen von Singer hergestellt, die nach dem Zweiten Weltkrieg »Veritas« hießen und aus einem volkseigenem Betrieb kamen. Auch dieses Werk steht leer. Der dritte große Produzent in Wittenberge, die Zellstofffabrik, ist ebenfalls außer Betrieb. In den Geheimgängen lassen sich aber möglicherweise noch Entdeckungen machen. Unter dem Nähmaschinenwerk wurden im Zweiten Weltkrieg heimlich Waffen produziert, weil man sich im Werk einer amerikanischen Firma vor amerikanischen Bombern sicher glaubte. Zu Zeiten des Kalten Krieges gab es in der Mühle die Ein-Mann-Bude: In den Kellergewölben hinter verschlossener Tür war ein einzelner Arbeiter mit der Herstellung von jährlich 0,4 Litern eines Derivats betraut, das hundertfünfzigtausend Ostmark wert war und unter hoher Geheimhaltung an die Sowjetarmee geliefert wurde. Niemand außer dem Generaldirektor wusste davon. Das Derviat diente als Raketenantrieb. Vermutlich flog Juri Gagarin damit ins All.
    Wittenberge hat mit seinem Rückkehrer Glück. Es kann noch einmal an die Geschichte jener ersten, wagemutigen Unternehmer anknüpfen, die im 19. Jahrhundert aus der feudalistisch-bäuerlichen Mark Brandenburg einen Industriestandort machten. Neben Salomon Herz gehörte auch Ferdinand von Zeppelin dazu, der in Potsdam Luftschiffe entwickelte. Johann Gottlieb Koppe gründete eine Zuckerfabrik im Oderbruch, und Carl Gottlob Wilkes betrieb eine große Hutfabrikation in der Niederlausitz. Heute werden diese Selfmademen, die wie Salomon Herz erst einmal alles groß denken und erstaunlich häufig dann auch etwas Großes erwirtschaften, eher mit den USA assoziiert. Der junge Betreiber der Alten Öhlmühle fühlt sich Salomon Herz verpflichtet. Das hier gebraute Bier heißt HerzBräu. Wenn die Backsteingebäude der alten Speicher zu den »Elblandfestspielen« von Opernarien und Musicals beschallt werden, wird man ihn in der Menge sehen und vielleicht für einen Auszubildenden halten.
    Brandenburg an der Havel segelt spätestens seit 2003 hart am Wind des Glücks. Zu DDR-Zeiten gehörte die Stadt ebenfalls zur Palette der Hässlichkeiten. Ein Stahl- und Walzwerk und ein Ausbesserungswerk der Reichsbahn verpesteten die Umwelt. Plattenbaugebiete faserten am Stadtrand aus. Ein düsteres Braunrot war die bestimmende Farbe im Zentrum. Häuser verfielen, Straßen verfielen, überall floss schmutziges Wasser, und gleich hinterm Wasser hockte die Armee. Keine Spur davon, dass diese Stadt an vier Seen grenzt und im Norden an den Naturpark des Westhavellandes. Keine Spur davon, dass diese Stadt schön sein kann. Dass das Braunrot zu ansehnlichen mittelalterlichen Kirchen gehört und nicht zu rostigen Stahlträgern. Dass die Stadt einst für ihr Blechspielzeug wie den Kletteraffen berühmt war und nicht für ihre Panzerfabrik. Dass die Havel glitzert, statt zu stinken. Dass sich fünfzig Brücken über die Wasserläufe spannen, darunter eine Bauchschmerzen- und eine Himmelsbrücke. Anwohner fahren

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