Gebrochen
sich brachte. Zu meiner Verblüffung war niemand im Wartezimmer und hinter dem Tresen wartete nicht die Sprechstundenhilfe, sondern der Arzt persönlich. Nach der Begrüßung wollte er einige Daten von Leon. Die Adresse nannte ich, weil er sich nicht rührte. Bei seinem Geburtstag konnte ich nichts sagen, weil ich es nicht wusste. Auffordernd sah ich ihn an.
„März“, sagte er leise, dann schien er zu überlegen. Konnte es tatsächlich sein, dass er es nicht wusste?
„Dreizehnter“, sagte er schließlich, klang aber nicht sehr überzeugt. Auch bei der Jahreszahl überlegte er, ehe er es aussprach. Ich nickte bestätigend, schließlich sollte er genauso alt sein wie ich.
„Irgendwelche Medikamente, die sie einnehmen? Allergien? Vorerkrankungen?“, fragte der Arzt weiter. Leon schüttelte nur den Kopf.
„Soweit so gut“, murmelte der Arzt und notierte sich etwas. Dann richtete er sich wieder auf.
„Dann brauch ich eine Urin- und eine Spermaprobe“, erklärte der Arzt. Leon spannte sich sofort wieder an. Mit einem Blick stellte ich fest, dass er vollkommen entsetzt war. Ich griff einfach nach den Behältern, die der Arzt auf den Tresen gestellt hatte und sagte leise: „Leon, komm mit.“
Wie in Trance wandte er sich zu mir und ich ging zu den Toiletten. So weit ich ihn kannte, nahm ich an, dass er auch zuvor schon solche Proben abgegeben hatte. Doch bestimmt nicht freiwillig, so wie er reagiert hatte. Mich würde nicht mal mehr wundern, wenn die Spermaprobe vom Arzt selbst genommen worden war.
„Du machst das in aller Ruhe hier drin. Die Becher stellst du dann in den Kasten dort drin“, erklärte ich. Leon nickte, doch er entspannte sich kein Stück. Ich drückte ihm die Becher in die Hand und wandte mich ab. Der Arzt saß noch immer hinter dem Tresen, blickte mich fragend an. Doch ich würde ihm sicher nichts erklären. Er sollte nur feststellen, ob Leon gesund war. Der Rest ging ihn nichts an. Allerdings wollte ich Leon ersparen, noch einmal kommen zu müssen.
„Muss er auf irgendwelche Testergebnisse warten?“, vermutete ich. Der Arzt nickte nur.
„Können sie die Ergebnisse schicken, oder muss er unbedingt noch einmal kommen?“, fragte ich weiter. Der Arzt runzelte die Stirn, doch er erwiderte: „Kommt auf die Ergebnisse an, würde ich sagen.“
„Schicken sie sie, wenn er Fragen hat, wird er sich melden. Geht das?“, flehte ich fast.
„Was ist los mit ihm?“, fragte er geradeheraus. Ich würde den Teufel tun und irgendwas erzählen.
„Schlechte Erfahrungen“, sagte ich nur. Das war schließlich ohnehin offensichtlich. Ich wandte mich ab, damit er mir nicht noch weitere Fragen stellen konnte. Ich blätterte im Wartezimmer lustlos in einem Magazin, bis Leon wieder auftauchte. Der Arzt forderte ihn gleich auf, ihm ins Sprechzimmer zu folgen. Leon ging ohne ersichtliche Reaktion mit ihm mit.
Ich versuchte, mich auf den Artikel zu konzentrieren, doch es fiel mir nicht leicht. Ich hatte keine Angst, dass ihm der Arzt irgendetwas antat, doch Leon war so angespannt und ängstlich und nervös, dass ich mir fast wünschte, bei ihm zu sein und seine Hand zu halten.
Nach endlosen fünfzehn Minuten tauchte Leon wieder auf. Er steuerte sofort den Ausgang an, ohne mich auch nur anzublicken. Schnell sprang ich auf und folgte ihm. Schweigend gingen wir zum Auto und fuhren nach Hause. Kaum waren wir in der Wohnung, verschwand er im Bad.
Immer unruhiger wurde ich, je länger die Dusche lief. Das letzte Mal, dass er so lange geduscht hatte, war, als meine Haushälterin über ihn hergefallen war!
Es konnte doch nicht sein, dass der Arzt …
Die Dusche ging aus und ich lief ins Bad. Ohne mich darum zu kümmern, dass er zusammen zuckte, fragte ich besorgt: „Was ist passiert?“
„Nichts“, murmelte er.
„Leon, bitte. Du duscht nie so lang. Außer...“, ich konnte den Satz nicht vollenden.
„Nur untersucht“, murmelte er wieder. Ich wollte noch einmal nachfragen, doch es würde nichts bringen.
„Ich mag keine fremden Finger auf meiner Haut“, sagte Leon ein wenig kräftiger. Ich warf ihm einen forschenden Blick zu. Dass er den Mundwinkel ein wenig nach oben zog, als versuchte er zu lächeln, beruhigte mich mehr, als seine Worte. Wäre etwas anderes gewesen, hätte er das bestimmt nicht zu Stande gebracht.
„Klar. Entschuldige“, war ich jetzt ein wenig beschämt wegen meiner Überreaktion.
„Ist ok“, sagte er. Ich nickte und ging wieder ins Wohnzimmer, wo ich noch einmal tief
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