Geburtstag in Florenz
gemeinsam getroffenen Entscheidung zu folgen, dann wäre Anna Maria Grazzini Ihrer Meinung nach noch am Leben?«
»Mit der Einschränkung, daß unvorhergesehene Komplikationen hätten auftreten können, würde ich das fast mit Sicherheit bejahen.«
»Und falls die Angeklagten später den Rat des Beamten befolgt hätten, der ihren Notruf bei der Polizei entgegennahm und sie aufforderte, einen Rettungswagen zu rufen – hätte das Opfer selbst dann noch eine realistische Überlebenschance gehabt?«
»Dazu müßte ich wissen, wieviel Zeit verstrichen war und wieviel Blut die Frau inzwischen verloren hatte.«
»Ich kann Ihnen nicht sagen, Herr Professor, wieviel Blut sie verloren hat, aber ich kann Ihnen sagen, daß, während die Angeklagten ihr blutendes, halb ohnmächtiges Opfer hinunter zum Wagen trugen oder schleiften und mit ihm in eine ruhige Seitenstraße hinter dem Forte del Belvedere fuhren, schätzungsweise fünfzehn bis zwanzig Minuten verstrichen – vorausgesetzt, die zu Protokoll gegebenen Zeiten sind korrekt.«
»In dem Fall ist die Wahrscheinlichkeit geringer …«
»Aber sie besteht immer noch?«
»Möglicherweise, ja.«
»Und trotzdem sind, wie wir gehört haben, noch einmal kostbare zehn Minuten …«
»Einspruch!« Der Verteidiger war aufgesprungen. »Mein Mandant konnte unmöglich wissen, daß Signora Grazzini eine innere Blutung davongetragen hatte. Ich protestiere gegen diese im höchsten Grade tendenziöse Art der Befragung.«
»Stattgegeben. Die Anklage ist gehalten, sich auf die zur Tatzeit waltende Faktenlage zu beschränken. Nachträgliche Spekulationen sind vor Gericht unerheblich.«
Womit er recht hat, dachte der Maresciallo. Trotzdem würden die Ausführungen des Staatsanwalts, selbst wenn sie aus dem Protokoll gestrichen wurden, ihre emotionale Wirkung auf die Geschworenen nicht verfehlen. Die Verteidigung plädierte auf fahrlässige Tötung, womit sie rein juristisch gesehen womöglich sogar richtig lag, aber der Staatsanwalt wollte den Angeklagten einen Mord anhängen, und er würde höchstwahrscheinlich damit durchkommen, schon allein, weil die Kerle sich ihrer so feige entledigt hatten. Ihnen war es einzig darum gegangen, sie loszuwerden, und am Ende hatten sie sie ihm aufgehalst.
»Ich behaupte«, dröhnte der Staatsanwalt ungerührt, »daß die drei Angeklagten sich über das Ausmaß der Verletzungen, die sie der Grazzini zugefügt hatten, sehr wohl im klaren gewesen sind. Ja, es kann gar nicht anders sein, denn warum hätten sie sonst alles daran gesetzt, die Frau loszuwerden? Hätten sie, wie behauptet, ihr größtes Problem wirklich in der Trunkenheit der Grazzini gesehen – was wäre dann naheliegender gewesen, als sie einfach ins Bett zu legen? Damit sie ihren Rausch ausschlafen konnte! Mario Saverino und Chiara Giorgetti hatten doch erreicht, was sie wollten, nicht wahr? Sie konnten das Kind zum Weihnachtsfest mit zu sich nach Hause nehmen. Und warum, meine Damen und Herren Geschworenen, warum taten sie das nicht? Warum entwarfen sie statt dessen einen ausgeklügelten Plan, um sich der Grazzini zu entledigen, um sie – und nicht das Kind! – aus der Wohnung zu bekommen? Sie haben gehört, was Mario Saverino aussagte: ›Wir wollten nicht, daß sie stirbt. Nein, keiner wollte, daß sie stirbt, und darum haben wir die Polizei gerufen.‹ Und damit, meine Damen und Herren, haben wir aus dem Munde eines der Angeklagten den Beweis dafür – einen spontan und aus eigenem Antrieb gelieferten Beweis –, daß die drei sehr wohl wußten, wie gefährlich die Verletzungen der Grazzini waren. So gefährlich, daß sie die Frau aus lauter Angst loswerden wollten. So gefährlich, daß sie fürchteten, falls die Grazzini sterben und man sie in ihrer Wohnung finden würde …«
»Einspruch!«
»Stattgegeben. Herr Staatsanwalt, ich sehe kaum einen relevanten Bezug zwischen Ihren Spekulationen und dem Gutachten des Herrn Gerichtsmediziners. Vielleicht sparen Sie sich Ihre Ausführungen für Ihr Plädoyer auf. Bitte, Herr Verteidiger.«
Der Maresciallo hatte erleichtert festgestellt, daß der Staatsanwalt, zwar aggressiv wie eh und je vorging, den Pathologen aber mit seiner Wiederholungstaktik verschonte. Vielleicht war diese Taktik ungeeignet für maßgebende Zeugen und blieb den Wehr- und Ahnungslosen vorbehalten. Der Maresciallo hätte gern gewußt, wohin er zwischen diesen beiden Extremen gehörte.
Jetzt hatte Chiara Giorgettis Verteidiger das Wort. Er mußte ihr unbedingt
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