Geburtstag in Florenz
wie man eine Fliege verscheucht. Womöglich hatte sie gehofft, sich direkt an den Richter wenden und ihn bitten zu können, sie – wegen des Kindes – aus der Haft zu entlassen.
»Die Verstorbene war die Lebensgefährtin von Antonio Pecchioli, Ihrem geschiedenen Mann, ist das richtig?«
»Ja.«
»Haben Sie Ihren Mann wegen seiner Beziehung zur Grazzini verlassen?«
»Was? Nein. Wie hätte das gehen sollen? Er kannte sie damals ja noch gar nicht. Er hat sie erst später kennengelernt.«
»Nachdem Sie ihn verlassen hatten und mit Mario Saverino zusammengezogen waren, den Sie später heirateten?«
»Ja.«
»Das Sorgerecht für Ihr Kind wurde Ihrem Mann zuerkannt?«
»Einspruch!« Das Gesicht des Anwalts war womöglich noch röter als zuvor, als er jetzt aufsprang, doch sein Einspruch wurde abgewiesen. Der Maresciallo sah sich in dem überheizten Saal um und beobachtete, statt der Verhandlung zuzuhören, Gesichter. Es gab kaum etwas, das er nicht über Chiara wußte, deren Mutter, die sich jetzt um die Kleine kümmerte, vor Jahren zu ihm gekommen war, weil sie herausgefunden hatte, daß ihre Tochter heroinsüchtig war. Das heißt, herausgefunden war wohl nicht ganz das richtige Wort, schon weil sie von solchen Dingen keine Ahnung hatte.
»Sie hat’s mir gesagt, ach was, ins Gesicht geschrien hat sie’s mir … Ich konnte ihr nichts mehr geben, und da hat sie mich geschüttelt, ja sogar geschlagen hat sie mich. Sehen Sie sich nur mein Auge an. Ich schäme mich, so einkaufen zu gehen, aber man läßt mich ja sowieso nirgends mehr anschreiben. Ich habe nur meine Rente, wissen Sie, und obwohl das Mädel sonst tagelang nicht nach Hause findet – am Zahltag ist sie immer da. Jedesmal …«
Selbst nach diesem Vorfall war die arme Frau wieder zu ihm auf die Wache gekommen und wollte in aller Unschuld Anzeige erstatten, weil man bei ihr eingebrochen und den Fernseher gestohlen hatte. Er hatte sie mit Mühe davon abgehalten, den Diebstahl anzuzeigen, und überredete sie statt dessen, Chiara in eine Entziehungskur zu schicken. Und sie hatte tatsächlich die Finger von dem Zeug gelassen, vor allem, weil sie fast unmittelbar nach der Entlassung von Pecchioli schwanger geworden war. Pecchioli, der nur halb so groß war wie sie und dem Gewicht nach höchstens ein Viertel von ihr – Pecchioli, der den Maresciallo so sehr an seinen armen kleinen Freund Vittorio erinnerte! Aber er hatte sie bei der Stange gehalten. Er ging seiner Arbeit nach und kümmerte sich rührend um das Kind. Sie waren einigermaßen zurechtgekommen, hatten sich jedenfalls über Wasser gehalten, und nach acht Jahren Ehe waren sie sogar soweit, daß sie bei ihrer Mutter ausziehen und sich eine eigene Wohnung nehmen konnten. Die war dunkel und eng und die Miete dafür unverschämt hoch, aber trotzdem … Und dann kam eines Tages Saverino daher, und Chiara tauschte das karge Leben und ihre winzige Küche gegen vergnügte Abende in den Clubs und ein paar neue Kleider. Doch sie fand sich nur zu bald am Spülstein wieder; diesmal gelegentlich mit einem blauen Auge zur Belebung der eintönigen Hausarbeit. Die Frage des Sorgerechts für das Kind war in Wirklichkeit nie von Amts wegen geklärt worden. Die Kleine blieb bei ihrem Vater, weil ihre Mutter sie verlassen hatte, und ihre Mutter verschwendete nie einen Gedanken an sie, bis es ihr irgendwann richtig dreckig ging und sie begriff, daß sie nichts und niemanden mehr hatte. Saverino blieb zwar bei ihr, vorausgesetzt, sie spurte, aber er langweilte sich mit ihr. Und da fiel Chiara plötzlich ein, daß sie Sehnsucht nach ihrer kleinen Fiammetta hatte, die ihr doch wenigstens die Einsamkeit vertrieben hätte. Selbst dann war sie nicht so dumm, das Sorgerecht zu beantragen. Saverino hatte ein Vorstrafenregister – kein aufsehenerregendes, aber er war immerhin vorbestraft. Chiara selbst war aktenkundig wegen Drogenmißbrauchs, und ihr Anwalt versuchte sie eben jetzt daran zu hindern, daß sie das preisgab.
»Einspruch! Herr Vorsitzender, seit der Geburt des Kindes vor zehn Jahren …«
»Stattgegeben.«
»Würden Sie dem Gericht bitte schildern, wie es zu dem Streit kam, der zum Tode der Anna Maria Grazzini führte?«
»Es war Heiligabend. Antonio hatte versprochen, daß ich Fiammetta über Weihnachten haben dürfte. Mario und ich, wir sind hin, um sie zu holen.«
»Um wieviel Uhr war das?«
»Weiß ich nicht.«
»Sie wissen es nicht!«
Schon wieder seine bewährte Masche! Aber in diesem Fall war sie
Weitere Kostenlose Bücher