Gedankenmörder (German Edition)
Fall noch einmal gründlich durch und verabredeten, dass Bartel alle bisherigen und aktuellen Informationen zugänglich gemacht werden sollten. Ohne an den Besprechungen der Mordkommission teilzunehmen und damit Gefahr zu laufen, sich bestimmte vorherrschende Hypothesen zu eigen zu machen, sollte Bartel den Ermittlern mit Hilfe von Fakten und der Technik der Fallanalyse zuarbeiten.
Es dämmerte schon, als sich Steenhoff in seinen Wagen setzte und zu dem Ehemann der verstorbenen 60 -jährigen Frau fuhr. Das Paar bewohnte ein gepflegtes Häuschen in Findorff, in der Nähe des Bremer Hauptbahnhofs. Steenhoff schätzte den Mann, der ihm misstrauisch die Tür öffnete, auf Ende 60 . Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen.
‹Der wird seine Frau nicht lange überleben›, durchfuhr es Steenhoff. Nachdem sich Steenhoff vorgestellt hatte, bat der Mann ihn ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa lagen umhäkelte Kissen. Ein weißer Stoffhund thronte auf der Rückenlehne des Sofas und schien das Zimmer, in das nur wenig Tageslicht fiel, zu bewachen.
Jurij Grigorewitsch wusste offenbar noch nicht, was genau mit seiner Frau geschehen war. Vorsichtig begann Steenhoff die näheren Umstände zu erklären. Aber Grigorewitsch unterbrach ihn jammernd. «Was soll ich ohne Olga machen? Kinder sind weg. Leben in anderer Stadt. Und ich hier allein.»
Er ließ den Satz unbeendet. Weinend sackte der Mann auf dem Sofa zusammen. «Olga hatte Krebs. Bösen Krebs. Sie viel hat gekämpft.» Plötzlich stand der Mann auf und ging auf eine Anrichte zu. Er griff sich ein gerahmtes Foto, das ein junges Paar zeigte, und hielt es Steenhoff hin.
«Da, schau. Das ist meine Olga. Sie hübsche Frau.»
Steenhoff nickte anerkennend. Plötzlich erschien es ihm unmöglich, dem Witwer zu erzählen, dass ein fremder Mann seiner toten Olga die Brust, die ihr nach der Krebserkrankung geblieben war, abgeschnitten hatte. Er würde mit den Kindern des Mannes reden. Sollten die entscheiden, ob ihr Vater die ganze Wahrheit erfahren sollte.
Nachdem er Grigorewitsch mehrmals gefragt hatte, ob seiner Frau eine Birgit Lange bekannt sei, und dieser immer nur verständnislos den Kopf schüttelte, verabschiedete sich Steenhoff wieder.
Er atmete tief durch, als sich die Tür hinter ihm schloss. Die Trauer des Ehemannes lastete wie ein zentnerschweres Gewicht auf ihm. Auf dem Heimweg folgte er einem plötzlichen Impuls und bog im Stadtteil Schwachhausen in eine Seitenstraße ein. Fünf Minuten später parkte er vor dem Haus von Birgit Lange. Sechs Parteien lebten in dem Mietshaus aus den 60 er Jahren. Den Vornamen auf den Klingeln zufolge waren die meisten Bewohner schon im Rentenalter. Steenhoff öffnete die Eingangstür und stand in einem Hausflur, der nach Reinigungsmitteln roch. Kein Bild hing an den Wänden, keine Blume zierte die Treppenabsätze. Alles atmete Sterilität.
Birgit Lange wohnte im dritten Stock des Hauses. Mit einer raschen Bewegung brach Steenhoff das Siegel auf, das Wessel nach der Durchsuchung angebracht hatte. Er öffnete die Wohnungstür und stand in einem schmalen, dunklen Flur. An der Garderobe hingen eine Jacke, zwei bunte Halstücher und ein Schal. An einer Pinnwand las Steenhoff Notizen: «Biomarkt, Eier, Brot, Geschenk für Papa kaufen, Futter für Pepe».
Unter der Pinnwand stand ein Paar Inliner. Alles sah so aus, als könnte Birgit Lange jeden Moment wieder zur Tür hereinkommen. Steenhoff spürte, wie sich Beklommenheit in ihm breitmachte. Die Nahtstelle zwischen Leben und Tod war für ihn oft schwer zu ertragen. In dieser kleinen Wohnung hatte bis vor ein paar Tagen noch eine junge Frau gelebt, voller Neugier, was das Leben noch für sie bereithalten würde. Dabei hatte sie nur noch wenige Stunden gehabt. Steenhoff schaltete das Licht im Flur an. Sofort fühlte er sich etwas besser. Am Fenster der schmalen Küche stand ein leerer Vogelkäfig, Wessel hatte recht, dachte Steenhoff. Die Regale waren sauber gewischt, die Spüle glänzte, und auf dem Boden lag nicht ein einziger Krümel. Neben dem Brotkasten stand ein aufgeschlagenes Kochbuch auf einem Ständer. Eine durchsichtige Scheibe aus Kunststoff schützte das Kochbuch vor Fettspritzern. Birgit Lange passte in das Haus. Sie schien eine ausgesprochen ordentliche junge Frau gewesen zu sein, dachte Steenhoff.
Der Anblick ihres Schlafzimmers traf ihn wie ein Schlag. Unterwäsche, zwei Bodys und BH s lagen verstreut auf dem Boden. Die Schranktüren waren aufgerissen. Die oberste
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