Gedankenmörder (German Edition)
Schublade einer hölzernen Kommode war so weit vorgezogen, dass sie gerade noch von den Laufschienen gehalten wurde. Das Bett war zerwühlt und das Laken halb von der Matratze heruntergerissen.
Über dem Bett hingen kleine Fotos. Die meisten zeigten Birgit Lange. Mit der Totenfratze, die er in der Pathologie gesehen hatte, hatte dieses junge, etwas pausbäckige Gesicht, das auf vielen Fotos lachte, nichts gemein.
Steenhoff warf einen Blick in das blitzblank geputzte Badezimmer und ins Wohnzimmer. Hier schien alles an seinem Platz. Dennoch hatte Steenhoff das Gefühl, irgendetwas zu übersehen. Er hatte die Wohnungstür schon in der Hand, als er plötzlich wusste, was es war. «Futter für Pepe», schoss es ihm durch den Kopf. Mit wenigen Schritten war er beim Vogelkäfig in der Küche. Er hatte sich getäuscht. Der Käfig war nicht leer. Doch der kleine Wellensittich saß nicht mehr auf der Stange, sondern lag auf dem Boden des Käfigs. Offenbar war Pepe verdurstet oder verhungert. Aber vielleicht steckte ja doch noch etwas Leben in ihm, und man könnte ihn wieder aufpäppeln. Steenhoff musste an seine Tochter Marie denken. Wenn es noch eine Chance für das kleine Tierchen gab, dann wäre es bei seiner tierliebenden Tochter in den richtigen Händen. Er öffnete die Käfigtür und gab dem kleinen Körper mit seinem Zeigefinger einen sanften Stoß. Der Vogel rollte auf den Rücken, die kleinen Füße starr von sich gestreckt.
Fassungslos starrte Steenhoff das tote Tier an. Pepe war nicht verdurstet. In der Brust des Vogels steckten vier bunte Köpfe. Jemand hatte Pepe mit den Stecknadeln der Pinnwand aufgespießt.
10
«Es gibt nicht nur Mörder, sondern auch ein paar normale Menschen. Direkt in deiner Nähe. Vielleicht hast du die ausnahmsweise auch mal auf dem Schirm.»
Der Satz gefiel Ira.
Sie fixierte ihre Waschmaschine, holte tief Luft und wiederholte ihre Formulierung mit Vehemenz. Ungerührt drehte sich ihre Waschmaschine weiter. Bei Frank würde ihr verbaler Angriff mehr Wirkung zeigen. Trotz seiner angekündigten Verspätung wartete sie nun schon geschlagene zwei Stunden auf ihren Mann. Dabei hatte sie ihm voller Mitgefühl dafür, dass sein neuer Fall ihn so beanspruchte, heute sein Lieblingsessen gekocht. Spezzatino di vitello, Kalbfleischragout. Ein echtes Opfer für eine Vegetarierin.
Tatsächlich hoffte sie, er könne sich nicht nur für ihr Essen, sondern auch für ihr neues Projekt erwärmen. Seit Tagen wartete sie auf den richtigen Moment. Heute Abend hatten sie endlich reden wollen und sich Zeit füreinander reserviert. Doch nun war es schon fast halb zehn und das Ragout längst kalt. Vielleicht sollte sie es so machen wie ihre Freundin Martina. Die hatte ein sicheres Gespür für dramatische Auftritte.
Als Martinas Mann sie kürzlich abends versetzt hatte, passte sie genau den Moment ab, als er zur Tür hereinkam. Ohne ein einziges Wort setzte sie ihren Fuß energisch auf das Pedal des Mülleimers und ließ das Essen vor seinen Augen in den Eimer gleiten.
Ha, das geschähe Frank recht. Was für eine symbolische Geste! Schade, dass ihre Hühner nicht auf Zabaione standen. Ansonsten hätte sie den Nachtisch liebend gerne an ihr Federvieh verteilt. Wütend schleppte sie einen Korb voller Wäsche die Kellertreppe hinauf. Als sie gerade die Tür aufstoßen wollte, sah sie einen Schatten hinter dem Glas.
«Warte. Ich helfe dir. Lass mich das tragen.»
Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte Steenhoff seiner Frau den Korb abgenommen.
«Entschuldige, dass ich dich habe warten lassen. Du bist bestimmt schon ganz sauer», stieß er hinter dem Wäscheberg hervor und schleppte ihn ins Schrankzimmer.
Innerlich strich Ira die Variante ‹Mülleimer›. Dennoch sollte Frank diesmal nicht so leicht davonkommen. Wer war sie denn, dass sie für ein bisschen gemeinsame Zeit mit ihm kämpfen musste?
Manchmal drohte Frank so stark in seinen Fällen aufzugehen, dass für nichts und niemanden mehr Platz war. Fast wäre es darüber einmal zur Trennung gekommen. Damals, als Marie fünf wurde und Frank sich abends über die Luftballons im Wohnzimmer wunderte. Bis in die Nacht hatten sie gestritten und waren unversöhnt ins Bett gegangen. Der Konflikt hatte Spuren in ihrer Ehe hinterlassen. In den darauffolgenden Jahren nahm sich Steenhoff stets an Maries Geburtstag frei. Ira honorierte sein Bemühen, indem sie den fünften Geburtstag ihrer Tochter nie wieder erwähnte. Dennoch, ohne dass sie darüber sprachen,
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