Gedankenmörder (German Edition)
oder fordert er uns heraus?», ging Rüttger auf Wessels Bemerkung ein. Als er schwieg, forderte ihn Steenhoff auf, seinen Gedanken weiterzuführen.
«Na, nach den bekannt gewordenen Leichenschändungen hat er doch eine enorme Aufmerksamkeit in den Medien bekommen. Er wusste, dass gleich mehrere Beamte der Mordkommission an dem Fall arbeiteten. Und dass ihn Zeugen bereits gesehen und auch beschrieben haben. Dennoch hat er wenige Wochen später sogar getötet und erneut Spuren zurückgelassen. Er wäre nicht der erste Täter, der der Polizei beweisen will, was für ein Haufen von vermeintlichen Dilettanten ihn verfolgt.»
«Ja, denselben Gedanken hatte ich auch schon», sagte Steenhoff nachdenklich, während er Rüttgers Beitrag hinter Spiegelstrichen notierte.
Einen Augenblick sagte niemand etwas. Dann meldete sich zum ersten Mal Block zu Wort.
«Ich finde es auffällig, dass er lebende Frauen offenbar genauso interessant findet wie Leichen. Zumindest bleibt er bei Frauenkörpern. Aber die Frage ist, springt er auch weiter hin und her oder hat er sich jetzt vom Nekrophilen zum Mörder entwickelt?»
Steenhoff nickte Block anerkennend zu. ‹Eine gute Frage›, dachte er im Stillen und warf laut ein: «Aber wir dürfen nicht vergessen, dass er auch schon einen Vogel getötet hat. Wir wissen zwar nicht, wie dieser Wellensittich von Birgit Lange ins Bild passt und warum er dran glauben musste, aber es muss einen Grund geben. Niemand durchbohrt einen Wellensittich einfach so mit Stecknadeln. Wir müssen das Gemeinsame an den Taten suchen, den Sinn, der sich daraus ergibt.»
«Auffällig ist, wie aufwendig er seine Tatorte inszeniert. Damit legt er Spuren, investiert viel Zeit, und sein Entdeckungsrisiko steigt», mischte sich nun wieder Wessel ein. «Und was sollen die maskenhaft geschminkten Frauen uns sagen?»
«Lasst uns im Augenblick bei dem bleiben, was wir von ihm wissen», sagte Steenhoff. «Er muss ein Psychopath sein, einer, der ein Doppelleben führt, sonst wäre er der Polizei schon längst bekannt.»
«Ja, er ist ein Meister der Unauffälligkeit», sagte Rüttger. «Alles spricht dafür, dass er wieder zuschlagen wird. Wir kennen bislang vier Tatorte.»
«Fünf», korrigierte ihn Steenhoff. «Zweimal hat er im Krankenhaus West zugeschlagen, einmal im vergangenen Jahr im Bestattungsinstitut, im Stadtwald und in Birgit Langes Wohnung.»
«Richtig, fünf», bestätigte Rüttger und nahm den Faden wieder auf. «Die Zeitabstände zwischen den Taten sind geringer geworden. Also will er uns entweder damit herausfordern, oder er handelt unter einem großen inneren Zwang. Wenn Letzteres zutrifft, müsste er spätestens in vier bis sechs Wochen wieder zuschlagen. Eher früher.»
Steenhoff merkte, wie Rüttgers Worte in ihm nachwirkten. ‹Er hat recht, wir haben nicht mehr viel Zeit. Aber wir haben trotz der Zeugenbeschreibungen von der Krankenschwester und dem Feuerwehrmann keinen wirklichen Ermittlungsansatz.›
«Zumindest wissen wir, dass er schon zweimal im Krankenhaus West war. Ich schlage vor, dass wir die Pathologie in den nächsten Tagen observieren lassen», schlug Wessel vor. Steenhoff hatte wenig Hoffnung, dass ihr Täter das Risiko eingehen würde, ein drittes Mal in die Pathologie einzudringen, dennoch nickte er zustimmend. Dann griff er einen anderen Gedanken auf.
«Was hat die Tatsache, dass er die Folterung und Ermordung der Ukrainerin gefilmt oder fotografiert hat, für eine Bedeutung in euren Augen?»
Da keiner etwas sagte, gab Steenhoff sein jüngstes Gespräch mit dem Fallanalytiker wieder.
«Also, der Kollege hat gleich mehrere Erklärungsmodelle angeboten. Ich gebe jedem von euch nach der Besprechung sein Papier. Sehr interessant fand ich einen Hinweis am Rande: Von zwei Serienmördern aus den USA ist bekannt, dass sie sich jahrelang mit Tötungsphantasien beschäftigt haben. Bei denen hatten die perversen Vorstellungen schon als Jugendliche begonnen. Den Psychologen und Forensikern gestanden sie später, dass sie eine schöne Frau, die ihnen beim Einkauf oder auf einem Fest begegnete, als ‹Schlachtvieh› wahrnahmen. Zumindest hatte einer der Täter diesen Begriff immer wieder verwendet.»
Steenhoff dachte einen Augenblick nach, um die Hinweise des Fallanalytikers richtig wiederzugeben.
«Das heißt, die standen an irgendeinem Buffet freundlich mit einer Frau ins Gespräch vertieft und dachten tatsächlich nur darüber nach, wie es sich anfühlen würde, sie zu töten.
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