Gefaehrlich begabt
das Licht nicht zu Emily gehörte? Sie atmete tief durch und bemühte sich, zwischen den herumirrenden Schatten etwas zu erkennen.
»Emily? Wenn Sie das sind, sind Sie auf dem richtigen Weg. Ich bin hier, bei den Kerzen.« Ihre Stimme klang dünn, obwohl sie nur in Gedanken sprach. Eine Adrenalinwelle rauschte durch ihren Körper, ihre Ohren glühten.
Das Licht bewegte sich langsam auf sie zu. Sie bildete sich ein, menschliche Umrisse zu erkennen, als Schattenseelen den Weg freigaben. Je näher die Seele rückte, desto schwächer wurde der Lichtschein, der von ihr ausging. Eine Frau stach aus den Schatten hervor.
»Sind Sie Emily Roseberg?«, rief sie ihr entgegen.
Die letzten Meter beschleunigte der Geist und eine zierliche Person trat auf sie zu. Sie wirkte viel jünger als auf dem Foto, aber die Ähnlichkeit war nicht zu leugnen. Aus großen, dunklen Augen blickte Emily sie fragend an.
»Mein Name ist Anna und ich möchte mit Emily sprechen. Das sind Sie doch, oder?«
Die Miene der Geisterfrau erhellte sich. »Anna. Ein starkes Talent besitzt du da. Außergewöhnlich.« Ihre Stimme klang rostig.
»Ein starkes Talent? Was meinen Sie?«
»Ich habe selten eine Gabe gesehen, die bei einem so jungen Mädchen dermaßen stark ausgeprägt war. Ein jeder wollte dir folgen.«
Anna schüttelte sich. Zum einen war es unnatürlich kalt, seit der Geist aufgetaucht war, und zum anderen bereiteten ihr Emilys Worte einen Stein im Magen. Ein jeder …? Meinte sie Eva?
»Wenn Sie Emily sind, dann brauche ich Ihre Hilfe«, wiederholte sie und versuchte, die Angst aus den Gliedern zu schütteln.
»Es tut gut, zu hören, dass ich selbst in so jungen Köpfen eine Hilfe darstelle. Man erinnert sich also an mich.« Ihr Gesicht bestand aus einem Haufen Grübchen, die Augen leuchteten.
»Ja, würden Sie mir helfen?«
»Was kann ich denn für dich tun?«
Anna sammelte sich kurz. »Ich muss wissen, wie man einen Rachegeist beschwört, ohne besessen zu werden.«
Die Augen der Geisterfrau blitzten amüsiert auf. »Lehrt man euch denn heutzutage nichts mehr?«
»Ich habe keinen Mentor, oder besser gesagt, bloß eine Hexe.«
»Ich verstehe.«
Emily griff nach ihrer Hand. Ihre Finger waren nicht annähernd so kalt, wie sie erwartet hatte. Den Frost, den eine tote Seele mit sich brachte, hatte sie gegenteilig denken lassen.
»Können Sie mir helfen? Wissen Sie, wie das geht?«
Eine Weile schien Emily nachzudenken, aber sie nickte. »Du musst das Ouija-Brett benutzen. Das ist die sicherste Methode. Die Racheseele wird aus dem Jenseits heraus mit dir in Kontakt treten, ohne dass du diese Welt betreten musst.«
»Ein Ouija-Brett? Und das funktioniert wie?«
»Dein Talent ist stark, du solltest keine Probleme haben. Aber es wird dich Kraft kosten und du hast nicht ewig viele Fragen zur Verfügung.«
Dass diese Reisen generell viel Kraft kosteten, erfuhr Anna jedes Mal aufs Neue. Nach diesem Erlebnis würde sie wahrscheinlich zwei Tage durchschlafen. »Wie funktioniert so ein Brett?«
»Deine Gabe wird sich auf die Reise begeben. Du selbst brauchst nichts zu tun. Aber lass sie nicht aus den Ohren.«
»Können Sie mir das genauer erklären?«
Emily lächelte und setzte zur Antwort an, da umwehte sie eine eisige Brise. Anna erlebte so etwas in den Schatten zum ersten Mal. Die Böe trieb ihr die Tränen in die Augen. Sibirische Kälte umhüllte sie und schneidend ließ sie der Wind zu einem Eisklotz erstarren. Die Kälte benebelte ihren Verstand. Was war das? Emily weitete panisch die Augen, ihr Anblick rüttelte Anna wach.
»Was ist das?«
Die Antwort erhielt sie aus der Ferne. »Anna? Ruf mich zu dir!«
Ein Kloß in ihrem Hals schnürte ihr augenblicklich die Kehle zu. Sie würde es versuchen, Marla hatte es gesagt. Inzwischen klapperten ihre Zähne. Bisher kannte sie das nur als Metapher aus Geschichten.
»Anna, du musst mir Einlass gebieten. Verschließ deine Sinne nicht und leg das Salz zur Seite!« Evas Stimme klang verzweifelt, aber sie klang auch nach ihr.
»Du solltest gehen«, sagte Emily ernst. »Verlass die Schatten. Sie wird dich verwirren und dich mit einer List dazu bringen, ihr Eintritt zu gewähren.«
In Anna tobte ein Zweikampf. Vernunft, Gewissen und Liebe traten gegeneinander an. Sie blickte Emily an. »Aber sie klingt so normal …«
»Geh!«
Emilys Tonlage verriet, dass sie keinen Widerspruch duldete. Die Lage schien ernst.
Anna warf noch einen Blick in die Richtung, aus der sie Evas Stimme vernahm,
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