Gefaehrlich begabt
Pflichten des Lebens kamen Anna vor wie Fesseln. Sie hatten sie auf ein Neues gefangen genommen und in den Knast befördert. Den Schulknast.
»Anna?« Ihr Kursleiter in Bio winkte sie nach der Stunde zu sich nach vorn.
Lustlos packte sie ihre Sachen in die Tasche und trat zum Lehrerpult vor. Vanessa stand ungeduldig im Türrahmen. Sicher platzte sie vor Ungeduld, weil sie wissen wollte, wer der mysteriöse Typ gestern gewesen war, der Anna vom Unterricht abgehalten hatte.
»Du warst gestern nicht in der Schule, hast du eine Entschuldigung?« Herr Brinkmann zog seine Brille von der Nase, was ihn deutlich jünger erscheinen ließ. Er hatte ein paar Jahre auf den Malediven verbracht und mit anderen Biologen irgendwelche seltenen Seegräser erforscht. Wann immer es ihm möglich war, gab er die Geschichten zum Besten. Die Sonne des Landes hatte seine Haut um Jahre altern lassen. Das tiefbraune Gesicht trug viele Falten, obwohl er nicht älter als fünfzig sein konnte.
»Ich habe kein Attest«, antwortete Anna kleinlaut und setzte ein zögerliches Lächeln auf.
»So etwas sollte in deinem Abschlussjahr nicht vorkommen. Gerade nicht am ersten Schultag.«
»Ich weiß, aber ich hatte keinen besonders guten Sommer. Ich fühlte mich überfordert.«
Wie gern sie doch in diesem Moment etwas anderes sagen wollte. Etwas, das deutlich machte, dass er sich seinen Bio-LK doch in die Haare schmieren sollte, und dass es wichtigere Dinge im Leben gab als Seegräser. Aber die Wahrheit war: Nicht die magische Welt hatte Anna vom Unterricht ferngehalten, sondern die Hormone.
»Ich habe von deinem Trauerfall gehört und ich habe Nachsicht mit dir. Es tut mir leid, was passiert ist, Anna. Aber das Leben geht weiter und du solltest dich auf dein Abi konzentrieren.«
»Eigentlich spiele ich mit dem Gedanken, abzubrechen«, hörte sie sich sagen. Mit diesem Gedanken befasste sie sich zwar erst ein paar Sekunden, aber er stimmte. Wer brauchte schon ein Abitur, um die Welt zu retten, oder zumindest ein paar Menschen?
»Abbrechen? Nun, noch bist du nicht volljährig. Ich denke, da haben deine Eltern auch noch ein Wörtchen mitzureden. So eine Dummheit.« Herr Brinkmann legte einen noch strengeren Tonfall an den Tag, aber er wirkte nicht echt.
Anna zuckte die Achseln und wandte sich ab, um das Klassenzimmer zu verlassen. Es würde immer verständnislose Menschen geben, die ihr Leben damit gestalteten, ihre Nase in irgendwelche Bücher zu stecken. Diese Menschen gehörten bestimmt nicht zu der Sorte, auf die Anna jemals hören wollte.
»Keinen guten Sommer? Schule abbrechen? Jetzt will ich’s aber genau wissen!« Vanessa mühte sich ab, mit Anna Schritt zu halten.
»Ich will nicht drüber reden.«
»Anna Graf! Ich bin deine Freundin.« Abrupt blieb sie stehen. »Ich gehe keinen Meter weiter, bis du mir erzählt hast, was eigentlich los ist.«
»Dann bleib doch da stehen«, rief Anna ihr zu und lief über den Flur zum nächsten Kursraum. Als Nächstes stand Englisch an, o Schreck!
Der Rest des Tages verging sehr langsam, die Zeiger auf der großen Uhr schienen zwischenzeitlich stehen zu bleiben. Mehr als einmal ertappte sie sich bei dem Gedanken, einfach abzuhauen und sich für die Ouija-Brett-Geschichte auszuruhen. Ein paar Mal erwischte ein Lehrer sie beim Träumen und in Deutsch merkte sie, dass sie nicht einmal wusste, über welches Gedicht sie sprachen.
Als endlich der Schlussgong läutete, sprang sie auf.
Eigentlich hatte sie vorgehabt, direkt zu Marla zu fahren, aber Sally machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Anna traute ihren Augen nicht, als sie Sally vor dem Schultor stehen sah. Sie hatte auf eine ganz andere Mitfahrgelegenheit gehofft.
»Was willst du denn hier?«
Sallys gebleichte Zähne blitzten unter dem künstlichen Lächeln hervor. »Da du dich ja so sehr auf die Hochzeit freust, hat dein Vater mich dazu verdonnert, mit dir shoppen zu gehen.«
»Und du glaubst, dazu hätte ich Lust?« Anna schmiss den Kopf in den Nacken und drängte sich an ihr vorbei.
Sally hielt sie am Arm zurück. »Du wirst mich begleiten.«
Sie riss sich los und schnaufte. Was bildete sich die Barbie ein? »Du kannst mich nicht dazu zwingen!«
»Was glaubst du, passiert, wenn dein Vater von deinem Geheimnis erfährt? Schickt er dich zum Therapeuten oder wird er meinen Rat befolgen und dich einweisen lassen?«
Annas Herz setzte aus. »Was meinst du?«
Selbstgefällig verzog Sally das Gesicht. »Glaubst du, ich bin blöd? Du trägst
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