Gefaehrlich begabt
Rede mit mir!«
Er setzte an, doch seine Lippen blieben versiegelt. Stattdessen zog er sie hinter sich her die Straße entlang.
Sie liefen schweigend durch die Gegend. Anna beschlich der Verdacht, dass er nicht einmal ein Ziel verfolgte. Seine Hand umklammerte ihre, fast, als wollte er sich an ihr festhalten.
Nach einer Weile blieb Anna stehen. »Ich gehe keinen Schritt weiter. Du machst mir Angst.«
»Bitte nicht hier.« Flehend starrte er sie aus seinen eisblauen Augen an. Was auch immer er vorhatte, fiel ihm sehr schwer.
»Okay.«
Sie irrten weiter durch die Straßen, bis sie vor einem großen Parkhaus stoppten. Anna kannte die Gegend, er führte sie Richtung Innenstadt. »Was willst du hier?«
Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das schwere Gatter. Das Gebäude war bereits geschlossen. Ohne größere Schwierigkeiten hob er das Gittertor an, es musste defekt sein.
»Bitte«, sagte er.
Sie legte drei Fragezeichen in ihren Blick. »Was willst du hier?«
»Bitte, du wirst es wunderschön finden.«
Es kostete Überwindung. Kopfschüttelnd kroch sie unter dem Gatter hindurch. Wunderschön, ein Parkhaus? Vielleicht hatte er seit der Dämonenbegegnung doch nicht mehr alle Tassen im Schrank? Sie sah nicht einmal ihre Hand vor Augen, aber Sebastian führte sie sicher über die Parkhausstraße. Er kannte sich aus. Er ging die Auffahrten hinauf, Anna zählte in Gedanken mit. Nach der sechsten standen sie plötzlich im Freien. Sie sah keine Wolke am Himmel, der Mond leuchtete wie eine große, gelbe Laterne. In dem schwachen Licht wirkte Sebastian noch blasser. Ihm ging es richtig schlecht, soviel stand fest.
Er zog sie an die Mauer des Nebengebäudes, welches das Parkdeck noch ein Stück überragte. »Siehst du den Metallgriff?« Er deutete nach oben.
»Ich soll auf das Dach klettern? Willst du mich umbringen? Ich hab Höhenangst!«
Er zuckte zusammen. »Du musst dich daran hochziehen, ich drücke von unten nach.«
Anna starrte den Griff an. Er diente sicherlich dem Schornsteinfeger oder sonst wem. Ein Blick in Sebastians Augen überzeugte sie. Wie hätte sie dem wunderschönen, traurigen Gesicht etwas abschlagen können? Sie trat in seine ausgestreckte Hand und bekam den Griff zu fassen. Mit all ihrer Kraft zog sie sich daran hoch, mit Schwung drückte Sebastian von unten nach. Auf allen vieren krabbelte sie auf das Dach.
Die riesige Fläche fiel nach vorn hin leicht ab. Als sie sah, wie tief es nach unten ging, stieg Übelkeit auf. Ein Schwindelgefühl breitete sich aus.
»Sieh nicht runter, schau mich an.«
Sie gehorchte und wandte ihm den Blick zu. Sebastian zog sich geschickt nach oben. Mit einem Satz stand er plötzlich neben ihr. Anna zitterte wie Espenlaub, es schüttelte sie. Behutsam half er ihr auf die Beine.
»Vertraust du mir?«, fragte er leise.
Anna nickte. Sie vertraute ihm, das wusste sie seit ihrer ersten Begegnung. Es glich einem Urvertrauen, sie hatte es vom ersten Tag an verspürt.
Sie bereute sofort, die Frage bejaht zu haben, denn Sebastian schob sie über die Dachziegel vorwärts.
»Ich halte dich, es kann nichts passieren.« Seine starken Arme umschlossen sie von hinten. Bei der Mitte des Daches ließ er los und setzte sich auf die Ziegel. »Komm her.«
Mit einem unguten Gefühl in der Magengrube ging sie neben ihm in die Hocke. Sie schloss die Augen, denn die Welt drehte sich.
»Aus dieser Position kannst du nicht in die Tiefe sehen.«
Vorsichtig riskierte sie einen Blick und atmete auf. Er sprach die Wahrheit, sie konnte nicht hinuntersehen. Der fantastische Ausblick ließ sie seufzen. Sie blickte über die gesamte Stadt hinweg. Behutsam streckte sie den Arm aus. Es sah aus, als könnte sie mit den Fingerspitzen den Dom berühren. Die Straßen lagen hell erleuchtet vor ihnen, die Sterne funkelten zum Greifen nah.
»Schön, oder?«
»Ja, das ist wahnsinnig schön. Ich wusste nicht, dass Köln so strahlend ist.«
Seine Augen blitzten auf, der Anflug eines Lächelns umspielte sein betrübtes Gesicht. »Ich habe diesen Platz schon vor langer Zeit entdeckt. Ich musste gleich an ihn denken, als ich hörte, dass du aus Köln bist. Fast hätte ich ihn vergessen.«
»Ich fühle mich unbeschreiblich frei.«
»Ich war oft hier. Hier oben kann man wunderbar nachdenken und seinen Träumen folgen. Niemand, der einen stört, keiner, der einen ablenkt.«
»Heute hast du wohl mich im Schlepptau.« Für einen Moment vergaß Anna die Sorgen, die sie auf dem Weg hierher begleitet
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