Gefaehrlich begabt
Tante bei ihrer Ermordung ein Finger abgeschnitten wurde. Übrigens ein Fall, den Sie untersucht haben. Es geht um Eva Ringer.«
»Können Sie vielleicht herkommen? Wir sollten das persönlich besprechen.«
Anna starrte den Hörer an. »Sie wollen, dass ich nach London komme? Bewegen Sie gefälligst Ihren Arsch hierher und unternehmen Sie etwas!«
»Es tut mir leid, wir müssen Ihre Aussage erst zu Protokoll nehmen.«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»So sind die Regeln, wir weichen niemals davon ab.«
Anna schnaufte verächtlich in den Hörer. »Also gut, ich komme. Aber sollte in der Zwischenzeit auch nur einer Menschenseele ein Haar gekrümmt werden, mache ich Sie persönlich dafür verantwortlich!« Zornig legte sie auf.
Jenny stiegen Tränen in die Augen. »Du fährst nach London?«
Sie nickte. »Ja und ich werde nicht ohne Hilfe zurückkommen, versprochen.«
»Aber das ist gefährlich«, jammerte sie.
»Jenny, gefährlicher ist es, hier darauf zu warten, dass sie uns abschlachten.«
»Ich will nicht, dass jemand stirbt.«
»Ich will das auch nicht. Deshalb muss ich doch dahin.«
Jenny kämpfte mit den Tränen. Sie verstand und nickte.
Entschlossen verließ Anna das Wohnzimmer. Wenn der Himmel einen Menschen erschuf, so gab es auch eine Aufgabe für ihn. Anna sollte ganz offensichtlich die Welt retten, oder zumindest einen Teil. Ihr lief die Zeit davon, sie durfte nicht länger auf Sally warten. Sie fuhr nach London. Sofort.
*
Sebastian betrat den Winkelbungalow. Er hatte Angst vor dem, was ihn erwartete. Die vergangenen Tage hatte er sich davor gedrückt, nach Hause zu fahren. Kira hatte das Hausbootdrama sicherlich bereits zum Besten gegeben.
Mit langsamen Schritten steuerte er auf das Wohnzimmer zu, aber auf das, was er sah, war er nicht vorbereitet. Die ganze Familie hatte sich versammelt und eine schwarze Frau saß an einen Stuhl gefesselt in der Mitte des Raumes.
Die Empathengabe pochte gegen seine Schläfen. Die Frau verspürte Todesangst. Sein Herz zog sich zusammen.
»Was ist los?«, fragte er. Seine Stimme klang fremd.
»Deine Rettung ist hier los.« Jonathan Fingerless blickte ihn ernst an.
»Wer ist die Frau?« Die Panik in ihrem Gesicht löste einen Rettungsimpuls aus.
Mit Jonathans Handbewegung flog die Tür hinter ihm ins Schloss. Die angespannte Stimmung jagte ihm einen Schauder über den Rücken.
»Versuch es erst gar nicht, Sebastian. Die Frau ist aus freien Stücken hier.«
Die Stricke um ihre Handgelenke besagten etwas anderes.
»Das ist Mel, sie ist eine Hexe. Sie hat sich angeboten, deine Empathengabe zu belegen. Wenn sie das getan hat, ist es ihr gestattet, zu gehen. Wir haben eine Vereinbarung«, warf Thea ein. Ihre Augen funkelten kalt.
Nie im Leben würden sie die Hexe laufen lassen, aber Sebastian spürte den schwachen Hoffnungsschimmer in ihren Gefühlen.
»Mel war bereits so freundlich, uns die Kräuterzutaten zu nennen, die sie für den Spruch benötigt. Wir haben schon alles vorbereitet. Kira?« Thea schnippte mit den Fingern.
Kira griff nach einem Schälchen und reichte es Thea.
Sebastians Gedanken überschlugen sich. Es musste eine Möglichkeit geben, der Sache zu entkommen, er wollte seine Gefühle nicht verlieren. Noch weniger wollte er, dass die Frau starb.
»Es gibt keine Lösung, Bruder.« Josh las seine Gedanken und versperrte ihm den Weg zur Tür.
Jonathan trat auf ihn zu und legte seine kräftigen Hände auf die Schultern. »Setz dich aufs Sofa. Es wird nicht wehtun und schnell gehen.«
Er gehorchte, obwohl sich jede Faser seines Körpers sträubte. Gegen seinen Vater hatte er keine Chance. Es gab nichts, was ihn aufhalten konnte. Allein konnte sich Sebastian nicht gegen ihn wehren.
»Befreit die Hexe«, sagte Jonathan.
Mit einer Handbewegung erlöste Kira die schwarze Frau von Knebel und Fesseln. Sie keuchte auf vor Schmerz, als das Blut zurück in ihre Hände floss. Mit zittrigen Fingern nahm sie das Schälchen entgegen und bewegte sich langsam auf Sebastian zu. Ihre Angst schnürte nicht nur ihr, sondern auch ihm die Luft ab.
Jonathan drückte ihn tief in die Polster. Sebastian widerstand dem zwecklosen Impuls, aufzuspringen. Er fing den Blick der Hexe auf. »Sie müssen das nicht tun, bitte.«
»Ich will leben«, antwortete Mel leise.
»Sie töten Sie, so oder so. Tun Sie das nicht. Ohne Gefühle werde ich nicht mehr in der Lage sein, Ihnen zu helfen.«
Unschlüssig sah die schwarze Frau ihn an, sie schien kaum älter als
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