Gefaehrlich begabt
im Wald behandelt hatte. Wie wär’s mit einer Entschuldigung? Sie sparte sich die Antwort. »Wo ist er?«
»Der junge Fingerless? Er ist leider entkommen.«
Leider? Natürlich! Die Engländer sahen das mit anderen Augen. Für den Moment musste die Aussage sie also beruhigen.
»Wie haben Sie mich so schnell gefunden? Ich war auf dem Weg zu Ihnen, als …«
»Ich weiß«, unterbrach Aldwyn sie. »Wir befanden uns bereits in Deutschland, als ihr Anruf einging.«
Sie funkelte ihn an und spürte, wie Wut im Bauch aufflackerte. Was spielte er für ein Spiel? »Und trotzdem haben Sie mich auf die Reise geschickt? Das Unglück hätte verhindert werden können!« Sie musste sich beherrschen, ihn nicht anzuschreien.
»Wir hatten die Lage zu jedem Zeitpunkt unter Kontrolle, Miss Graf.«
»Die Lage unter Kontrolle? Es sind Menschen gestorben! Ein ganzer Bus voll.« Tränen stiegen auf. So viele Leute – einfach tot.
»Menschen sterben hin und wieder, Miss.«
Ihr blieb die Antwort im Hals stecken. Das konnte er nicht wirklich gesagt haben. Sie träumte.
»Wir wissen seit dem Tod ihrer Tante, dass die Fingerless zurück sind. Eva hatte es uns erzählt, bevor der Magier die Leitung unterbrach.«
»Sie wussten es?«
Dass Aldwyn unter dem Blick, den sie ihm zuwarf, nicht umfiel, grenzte an ein Wunder. Bittere Flüssigkeit sammelte sich in ihrem Mund und sie widerstand der Idee nur knapp, ihm ins Gesicht zu spucken. Der Mann war keinen Deut besser als ein Magier. Manche kletterten so schnell, dass sie nicht bemerkten, den falschen Berg bestiegen zu haben. Ihr Gipfel lag meilenweit vom richtigen entfernt. Sie durfte dem Beirat nicht vertrauen, das hatte sie sofort gespürt. Ihre Instinkte schrien es ihr zu.
»Was hätten wir Ihrer Meinung nach tun sollen?« Seine Augenbrauen zogen sich fragend zusammen.
»Uns aufklären! Schon vor Wochen!«
Aldwyn schüttelte den Kopf. »Wir werden in Ruhe die Sachlage klären. Hier und jetzt ist der falsche Ort dafür. Allerdings dürfte es Sie interessieren, dass sich Ihre Hexenfreundin wohlauf befindet. Wir konnten sie in letzter Sekunde in Sicherheit bringen. Das Oberhaupt der Fingerless schlich bereits um ihr Haus herum.«
»Marla? Wo ist sie?« Ein Felsbrocken fiel ihr vom Herzen. Marla lebte!
Schwerfällig richtete sich der Alte auf und zog den Vorhang zum Passagierraum zur Seite. »Kommen Sie. Es wird Sie erstaunen, wer Sie alles erwartet.«
Anna streckte die Glieder und stand auf. Wer sie alles erwartete? Sie schob sich durch die Tür.
Eine blonde Frau zog sie stürmisch in die Arme, beinahe riss es sie von den Füßen. Sallys sonst perfekt geschminktes Gesicht zerlief förmlich unter dem Make-up. Ihr Mascara hatte sich von den Wimpern verabschiedet und übers halbe Gesicht verteilt. Nasse, schwarze Flecke übersäten das Brautkleid. Sie blickte sie aus geröteten Augen an.
»Anna! Gott sei Dank, es geht dir gut!«
Vorsichtig löste sich Anna aus der überschwänglichen Umarmung. »Was tust du hier?«
»Wir wollten gerade die Torte anschneiden, als sie kamen. Man sagte uns, du bist in Gefahr und man würde uns brauchen.«
»Wo ist Papa?« Himmel, ihr Vater wusste doch nichts von alldem! Sally gab den Weg in den Passagierraum frei und Anna stockte der Atem. Wie konnte das möglich sein? Was wollten sie alle hier? Die Mitreisenden lächelten ihr hoffnungsvoll entgegen. Ihr Vater hatte den Kopf gegen eine Scheibe gelehnt, er schlief als Einziger. Marla, Jenny, Franks Mutter Virginia, Vanessa und Kevin saßen in zwei Reihen auf den Flugsitzen.
»Wir mussten ihm etwas zur Beruhigung geben, ihn hat der Schlag getroffen, als er von der ganzen Sache erfahren hat«, flüsterte Sally.
»Was um alles in der Welt macht ihr denn hier?« Anna rieb sich die Augen, aber die Halluzination wollte nicht weichen.
»Anna, wir sind die …«, platzte es aus Jenny heraus, aber Aldwyn schnitt ihr das Wort ab.
»Miss Cole, wir haben eine Abmachung. Miss Graf wird noch früh genug erfahren, worum es geht. Bis dahin soll sie sich lediglich an Ihrer Anwesenheit erfreuen.«
Anna holte Luft und setzte an, dem alten Knacker die Meinung zu geigen, als ein weiterer Mann aus dem Cockpit trat.
»Mein Name ist Robert Pearson. Ich bin der Vorsitzende des Beirats und wir können uns später gern unterhalten. Im Augenblick steuern wir Heathrow an und werden in wenigen Minuten landen. Würden Sie sich bitte auf einen freien Platz setzen und sich anschnallen?«
Sally zog sie auf einen Sitz. Anna
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