Gefährliche Begierde
war so weit entfernt, so entsetzlich weit.
Annie schwang ein Bein über die Dachkante und zielte mit dem Absatz auf Mirandas Hand, die sich am Geländer festklammerte, und trat zu.
Miranda schrie, aber sie lockerte den Griff nicht. Annie hob ihren Fuß und trat zu. Wieder und wieder. Der Schmerz war unerträglich. Mirandas Griff lockerte sich. Sie verlor den Halt unter ihrem Fuß und baumelte in der Luft. Ihre linke Hand, die vor Schmerz pochte, ertrug die Misshandlung nicht länger. Ihre rechte Hand, die bereits durch die Schusswunde geschwächt und taub war, konnte Mirandas Gewicht nicht halten. Miranda blickte verzweifelt hoch, als Annie ihren Fuß hob, um noch ein letztes Mal zuzutreten.
Doch der Tritt blieb aus.
Stattdessen wurde Annies Körper zurückgerissen wie eine Marionette, deren Fäden alle auf einmal gezogen worden waren. Sie stieß einen unmenschlichen Wutschrei aus, so als könnte sie es nicht glauben. Und dann gab es einen dumpfen Schlag, als ihr Körper seitlich auf das Dach stürzte.
Einen Augenblick später erschien Chase an der Dachkante. Er lehnte sich darüber und ergriff Mirandas Handgelenk. »Nimm meine Hand! Nimm sie!« brüllte er.
Ihre Füße gegen die Mauer gestemmt, gelang es Miranda, ihren rechten Arm zu erheben. »Ich kann nicht … es reicht nicht …«
»Los, Miranda!« Er lehnte sich noch weiter über die Kante und streckte sich so weit es ging hinüber. »Du musst! Ich brauche deine beiden Hände! Greif nur nach oben, das ist alles! Ich halte dich, Liebling. Bitte!«
Liebling. Dieses einzige Wort, das sie nie zuvor von ihm gehört hatte, schien eine neue Kraftquelle tief in ihrem Innern zu mobilisieren. Sie holte Luft und streckte sich ächzend gen Himmel. Mehr geht nicht, dachte sie verzweifelt. Weiter komme ich nicht.
Da schloss sich eine Hand um ihr Handgelenk, und sofort wurde sie mit einem so festen Griff gepackt, dass sie noch nicht einmal für eine Sekunde befürchtete, sie könnte fallen. Er zog sie hoch und über die Dachkante.
Erst dann verließen sie ihre Kräfte. Aber sie benötigte sie auch nicht mehr. Taumelnd fiel sie in seine Arme.
Kein Baum hatte sich je so solide angefühlt, so standfest. Nichts und niemand konnte sie im Schutz dieser Arme verletzten. »Mein Gott, Miranda, ich dachte …«
Und dann sprach er nicht weiter. Die Sicherung einer Pistole klickte.
Sie wirbelten beide herum und sahen Annie, die nur wenige Meter von ihnen entfernt auf wackeligen Beinen stand. Sie umklammerte die Waffe mit beiden Händen.
»Es ist zu spät, Annie«, sagte Chase. »Die Polizei weiß alles. Sie haben Ihren letzten Brief. Sie wissen, dass Sie Richard getötet haben. Und jetzt suchen sie nach Ihnen. Das Spiel ist aus.«
Annie ließ die Waffe langsam sinken. »Ich weiß«, flüsterte sie. Sie holte tief Luft und blickte in den Himmel.
»Ich habe dich geliebt«, sagte sie zum Himmel. »Verfluchter Richard. Ich habe dich geliebt!« schrie sie.
Dann erhob sie die Waffe, steckte sich den Lauf in den Mund und drückte langsam ab.
15. KAPITEL
Diesmal reichte die Fürsorge des kauzigen Dr. Steiner nicht aus. Nur ein Krankenhaus und ein wirklich guter Arzt konnten helfen. Man orderte ein Rettungsboot, und Miranda wurde unter Dr. Steiners Aufsicht an Bord der Jenny B. gebracht. Das Krankenhaus von Bass Harbour war über das, was es zu erwarten hatte, alarmiert worden: Schusswunde in der rechten Schulter, Patientin bei klarem Bewusstsein, Blutdruck stabil und die Blutung unter Kontrolle. Die Jenny B. legte mit zwei Passagieren, einer dreiköpfigen Crew und einer Leiche von der Pier ab.
Chase war nicht mit an Bord.
Er rutschte in diesem Moment unruhig auf einem Stuhl in Lorne Tibbetts Büro herum und beantwortete tausend und eine Frage. Das war nicht zu vermeiden. Schließlich gab es eine tote Frau. Eine Untersuchung war fällig und, wie Lorne es so prägnant ausdrückte, er hatte nur die Wahl zwischen Reden oder Gefängnis. Die ganze Zeit, während Chase dort saß, dachte er an die Jenny B. War sie bereits in Bass Harbour angekommen? Wie ging es Miranda?
Würde Lorne Tibbetts jemals mit der verdammten Fragerei aufhören?
Es war zwei Uhr morgens, als Chase endlich aus dem Polizeirevier hinausspazierte. Die Nacht war warm für Maine, dennoch fröstelte er, als er in seinen Wagen stieg. Heute Nacht fuhren keine Fähren mehr nach Bass Harbour. Er war bis morgen auf dieser Insel gestrandet. Wenigstens wusste er, dass Miranda außer Gefahr war. Ein Anruf im Krankenhaus
Weitere Kostenlose Bücher