Gefährliche Flucht - zärtliche Eroberung
Zärtlichkeit. Sie liebte ihn, und heute Nacht sollte er es erfahren.
„Sind Sie ganz sicher, Norton? Könnte es sich bei dem Namen des Adressaten um einen Irrtum handeln?“ Für einen kurzen Moment glaubte Lucien, einen Anflug von Verlegenheit im Mienenspiel seines Butlers zu erkennen, doch dann straffte der Dienstbote sich.
„Hayley ist des Lesens und Schreibens unkundig, Mylord“, erwiderte er würdevoll. „Aber der Junge hatte den Brief auf dem Küchentisch abgelegt, bevor er sich auf den Botengang machte. Er poussiert seit einiger Zeit mit der Zofe Ihrer Ladyschaft, wenn ich das anmerken darf, und er nahm sich einen Moment Zeit, um sich von dem Mädchen zu verabschieden.“ Der Butler zögerte unmerklich. „Ich sah das Schreiben auf dem Tisch liegen, Mylord, und Farquharson ist ein Name, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde.“
Schweißgebadet fuhr Madeline hoch, das Herz klopfte ihr bis zum Halse. Sie musste tief geschlafen haben, doch nun erfüllte sie eine Angst, die der aus ihren Albträumen von Cyril Farquharson ähnelte. Albträume, die der Vergangenheit angehörten …
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug zweimal. Das Schlafgemach lag in Dunkelheit. Nur gelegentlich fiel mattes silbriges Licht durch das große Fenster, wenn der Mond hinter den Wolken hervortrat. Benommen setzte Madeline sich auf und sah sich um. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte sie mit absoluter Gewissheit. Dann fiel es ihr ein: Lucien hatte kommen wollen, und er war nicht da. Neben ihr auf der Matratze lag der massige schwarze Körper von Max. Der Hund atmete leise schnaufend und winselte gelegentlich im Schlaf.
Madelines Gefühl, dass etwas nicht stimmte, verstärkte sich. Waren die Nachrichten, die Guy gebracht hatte, so schlimm, dass sie Lucien davon abgehalten hatten, sein Versprechen zu erfüllen? Standen Viscount Salcombes Neuigkeiten in irgendeinem Zusammenhang mit Cyril Farquharson? Die nächtliche Stille ihres Schlafgemachs hielt keine Antwort auf ihre Fragen bereit.
Sie warf die Decke von sich und schwang die Beine über die Bettkante. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich kalt an, dennoch stand sie auf und ging zu der Tür, die ihre und Luciens Räume miteinander verband. Max sprang vom Bett herunter und tapste hinter ihr her. Madelines Finger schlossen sich um den blanken Knauf und drehten ihn vorsichtig. Die Tür öffnete sich geräuschlos.
Auf der Schwelle blieb Madeline unschlüssig stehen. Luciens Schlafgemach lag in völliger Dunkelheit, offenbar hatte jemand die schweren Vorhänge vor den Fenstern zugezogen. Im Kamin brannte kein Feuer, und es waren auch keine Kerzen angezündet.
All das schreckte Max nicht ab. Er lief an Madeline vorbei ins Zimmer und reagierte auf keinen ihrer halblaut geflüsterten Versuche, ihn zurückzurufen.
Schließlich gab Madeline auf. Vermutlich hatte der Hund es sich längst in Luciens Bett bequem gemacht und schenkte seinem tief schlafenden Herrchen die Wärme, die er sonst ihr zu schenken pflegte. Mit einem leisen Seufzen schloss sie die Tür.
Ihre tastenden Finger hatten die Zunderbüchse auf dem Nachttisch neben ihrem Bett rasch gefunden. Bald flackerte die Flamme der Kerze, die sie angezündet hatte. Madeline hockte sich auf die Bettkante. Ausgeschlossen, dass sie in dieser Nacht noch ein Auge zutat. Ihr Blick fiel auf das Buch, das sie am Tag zuvor zu Ende gelesen hatte. Vielleicht würde sie in Luciens reich bestückten Bücherregalen neuen Lesestoff finden – einen spannenden Roman, der ihre Aufmerksamkeit fesselte und ihre Gedanken abzulenken vermochte. Sie stand auf, griff nach der Kerze und machte sich auf den Weg in die Bibliothek.
Blicklos starrte Lucien hinaus in die Dunkelheit. Das Feuer im Kamin war lange erloschen, und vor dem zugigen Fenster der Bibliothek blähten sich die Vorhänge, die er ein Stück zur Seite geschoben hatte, an den Rändern leicht auf.
Lucien bemerkte nichts davon, auch nicht, dass es empfindlich kühl geworden war im Raum. Er hing in seinem Sessel und kippte einen Brandy nach dem anderen in sich hinein. Mit etwas Glück würde der Alkohol ihn so betrunken machen, dass er den Schmerz über Madelines Verrat nicht mehr spürte.
Sobald er die Augen schloss, sah er sie vor sich. Ihren vertrauensvollen Blick, die leicht geöffneten rosigen Lippen, auf denen ein zärtliches Lächeln lag. An dem, was Farquharson getan hat, trifft dich keine Schuld, hatte sie gesagt und ihm ihren Mund zum Kuss dargeboten. Voller Bereitwilligkeit.
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