Gefährliche Flucht - zärtliche Eroberung
So betörend. Und durch und durch unaufrichtig. Farquharson hätte es nie geschafft, seine innere Wachsamkeit zu unterlaufen. Madeline war es ohne jede Anstrengung gelungen.
Lucien hob die Hand und massierte sich die pochende Schläfe, während er das Geschehen zum x-ten Male vor seinem inneren Auge ablaufen ließ. Sie war gut, das musste er Madeline lassen. Ihre vorgespielte Unschuld. Die Reaktion auf seinen Kuss. Die Bitte, in ihr Bett zu kommen. Wie weit wäre sie gegangen, um ihn einzulullen? Hätte sie sich ihm hingegeben aus Hörigkeit zu Farquharson? Ein weiterer Schluck Brandy rann ihm die Kehle hinunter, doch der Schmerz in seinem Innern ließ sich nicht betäuben. Erst recht nicht angesichts der Maßnahmen, die er morgen würde ergreifen müssen … Ein gedämpftes Geräusch aus der Halle drang an sein Ohr. Er meinte eine Frauenstimme zu hören, doch gleich darauf herrschte wieder Stille. Dann wurde die Bibliothekstür geöffnet, und das unstete Licht einer flackernden Kerzenflamme erhellte den Raum für einen kurzen Moment, ehe es wieder dunkel wurde wie zuvor.
„Verflixte Kerze“, murmelte jemand.
Lucien saß stocksteif in seinem Sessel. Er vernahm vorsichtig tappende Schritte, die in seine Richtung zu kommen schienen. Seine Muskeln spannten sich an wie zum Sprung.
Doch die schemenhafte Gestalt bewegte sich an den Bücherregalen vorbei, steuerte auf seinen Schreibtisch zu. Papier raschelte, und im Licht des Mondes, der hinter den Wolken hervorkam, konnte Lucien eine schmale Gestalt ausmachen, die die Hände von sich streckte und suchend auf der Schreibtischplatte herumtastete. Dann bückte sich die Silhouette und versuchte, die Schubladen aufzuziehen. Vergeblich – sie waren alle verschlossen.
Plötzlich stieg ihm der schwache Duft von Orangen in die Nase, und er erstarrte. Madeline! Was hatte sie um diese Stunde in seiner Bibliothek zu suchen? An seinem Schreibtisch? Er hörte sie leise seufzen und beobachtete, wie sie sich aufrichtete und einen Augenblick unschlüssig dastand, ehe sie sich zum Fenster umwandte und nach draußen sah.
Lautlos erhob er sich und trat hinter sie. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte hinauf in die jagenden Wolken. Ihr Haar hing ihr offen über die Schultern und den Rücken hinunter bis zu ihrer Taille. Sie trug keinen Morgenmantel über dem züchtigen weißen Baumwollnachthemd, das ihr bis zu den Knöcheln reichte, und der Geräuschlosigkeit ihrer Schritte nach zu urteilen, wahrscheinlich auch keine Hausschuhe.
„Genießt du den Ausblick?“
Bei seinen Worten fuhr Madeline mit einem unterdrückten Aufschrei herum. Ihre Hand flog zu ihrer Kehle. „Lucien!“, keuchte sie. „Mein Gott, habe ich mich erschreckt! Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du hier bist.“
„Augenscheinlich nicht.“ Im Mondlicht hob sich seine Haut unnatürlich blass von seinen dunklen Haaren ab, seine Züge wirkten beinahe wie aus Marmor gemeißelt. Er hatte sich seines Gehrocks und seiner Weste und sogar seines Krawattentuchs entledigt, und sein Hemd stand am Hals offen. In seiner Rechten hielt er ein leeres Brandyglas. Madelines Blick wanderte zurück zu seinem Gesicht. Luciens Mienenspiel verhieß nichts Gutes.
„Stimmt irgendetwas nicht?“ Sie streckte die Hand aus und berührte ihn am Arm.
Lucien zuckte zurück, als habe er sich verbrannt. „Er hatte recht, Madeline. Du kannst dich hervorragend verstellen. Ich habe nicht einen Moment an der unschuldigen Miss Langley gezweifelt.“
Madeline starrte ihn an, als redete er in einer ihr unverständlichen Sprache. Ihr Blick fiel auf das Glas in seiner Hand. „Du bist betrunken“, stellte sie fest, ohne ihr Erstaunen verbergen zu können.
Eine unmerkliche Veränderung in seiner Haltung warnte sie, das Thema weiterzuverfolgen. „Wir sehen uns morgen früh“, sagte sie leise und machte Anstalten, an ihm vorbeizugehen.
Doch Lucien hatte sie am Oberarm gepackt, ehe sie auch nur den ersten Schritt tun konnte, und riss sie an sich. „Hast du gefunden, wonach du suchtest?“ Seine Stimme klang kalt und hart, von der Zärtlichkeit, die noch vor ein paar Stunden darin gelegen hatte, war nichts mehr zu hören.
Verwirrt zog Madeline die Brauen zusammen. „Nein. Ich konnte nichts sehen, weil die Kerze ausging. Ich hatte gehofft, eine neue zu finden, bevor meine erlöschen würde.“
Lucien stieß ein höhnisches Lachen aus. „Wie bedauerlich, dass eine solche Kleinigkeit dich davon abhielt, in meinem
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