Gefaehrliche Freiheit - das Ende der Sicherungsverwahrung
vergangene Zeit zu bekommen, kennen Sie vielleicht das Zählen der Tage mit Strichen an der Wand:
Sie können das gerne weiterzeichnen; wenn Sie bei 12 775 Strichen angekommen sind, haben Sie die Zahl der von Gerhard Kraus ununterbrochen verbüßten Hafttage erfasst. Falls Sie ein Meterband abreißen wollen, sollten Sie ein Band mit etwa 128 Metern benutzen.
Besonders schwer zu ertragen wird diese Zeit, wenn Sie sich, wie Gerhard Kraus, als unschuldig verurteilt sehen. Von Anfang an bestreitet er die ihm zur Last gelegten Taten. Unddas bis heute, mit sturer Konsequenz. Vielleicht hatte er innerlich den Kampf zwischen Stolz und Gedächtnis gefochten, den Nietzsche so anschaulich formuliert hat; vielleicht ist es das, was Psychoanalytiker Verdrängung nennen. Oder einfach Leugnen, Unschuld, oder was auch immer …
Wie verhält sich Gerhard Kraus in dieser Lage? Gerhard Kraus passt sich an, weil es wohl gar nicht anders geht oder weil das die Überlebensstrategie ist, die er in seinen Heimaufenthalten erlernt hat. Er passt sich dem Gefangenenmilieu an. Er fällt auf durch Alkoholkonsum, der auch das innerhalb der Gefängnismauern bekannte Maß übersteigt; er macht Geschäfte mit Mitgefangenen, wird erwischt, wie er für andere Drogen „bunkert“. Und er ist renitent und aggressiv – ein unbequemer Gefangener. Gleichzeitig passt er sich an nach dem Motto „Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist“. In seinen Erinnerungen spielt vor allem die Arbeit innerhalb des Gefängnisses eine Rolle. Strafgefangene sind zur Arbeit verpflichtet, und Gerhard Kraus arbeitet und beschreibt das so:
1966 in Schwäbisch Hall: Mokassins nähen; Pensum zehn Paar pro Tag.
1969 bis 1971 in Pforzheim: Kabel und Stecker montieren, Hausreiniger (im badischen Gefängnis als „Schänzer“ bezeichnet), Stanzarbeiten für eine externe Auftragsfirma.
1971 bis 1974 in Mannheim: Schuhe nähen für die Firma Salamander, Pensum zwölf Paar pro Tag.
1974 bis 1975 in Rottenburg: Stühle flechten.
1975 bis 1977 in Stuttgart-Stammheim: Fahrräder einspeichen und warten auf die Gerichtsverhandlung.
1977 bis 1991 in Bruchsal: Arbeiten in der Schneiderei, Schuhmacherei, Druckerei, Polsterei und zeitweise Beschäftigung in einer Arbeitstherapie.
1991 bis 2010 in der Justizvollzugsanstalt Freiburg in der Sicherungsverwahrung: Arbeit in der Anstaltswäscherei, danachBesuch eines Vorbereitungskurses zum Hauptschulabschluss, den er auch erlangt. Ein Jahr lang besucht er noch einen Realschulkurs, den er aber abbricht; möglicherweise war er überfordert.
In der Gefängnisstruktur lebt er sein eigenes Leben und verbringt viel Zeit mit seinen Hobbys. Er beginnt zu sticken, bis er keine finanziellen Mittel zur Beschaffung der benötigten Utensilien mehr hat. Mit Geduld legt er Puzzles. Er erlernt die Schrift unserer Großeltern und schreibt ganze Bücher in schöner Handschrift ab; beim Schreiben beginnt er auch, eigene, kleine Geschichten zu verfassen, die einerseits anrührend naiv klingen, aber auch einen zusätzlichen Zugang zu ihm ermöglichen. So sucht er vielleicht eine eigene Identität; eine, die ihm das Gefängnis nicht nehmen kann.
Und er verweigert sich: Therapiemaßnahmen kommen für ihn als einem unschuldig Verurteilten nicht in Betracht. Nach dem Strafvollzugsgesetz findet zu Beginn der Haft und dann mindestens jährlich eine sogenannte Vollzugsplankonferenz statt. In dieser werden die wesentlichen Eckdaten der Vollzugsplanung festgeschrieben: Wo wird der Gefangene untergebracht, in welcher Abteilung, in Einzel- oder Gemeinschaftsunterbringung, im offenen oder geschlossenen Vollzug? Wie wird er beschäftigt, soll er in einem Betrieb der Justizvollzugsanstalt arbeiten, eine Ausbildung absolvieren, einen Schulabschluss nachholen? Welche Freizeitangebote erhält er? Und natürlich: Welche Behandlungsangebote werden ihm gemacht, was ist sinnvoll, was kann er mitmachen? Wie sieht es mit Kontakten nach draußen aus? Werden Lockerungen aus dem Vollzug in Betracht gezogen, welche? Gibt es Überlegungen zur Entlassvorbereitung?
Für Gerhard Kraus bedeutet dies über 35 Jahre mindestens einmal im Jahr in der Vorbereitung dieser Konferenz eine Konfrontation mit Fragen: Haben Sie es nicht doch getan? Geben Sie es zu? Bereuen Sie es? Machen Sie eine Therapie mit?
Nein, Gerhard Kraus weigert sich, weil er sich zu Unrecht verurteilt sieht. Es gibt keinen Kompromiss, keine Bewegung. Dies zeigt sich besonders zu Anlässen wie der Prüfung der vorzeitigen
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