Gefährliche Nebenwirkung (German Edition)
Ich lasse den Kopf zwischen meine Schultern sinken und weine, während ich mich an den Eisenstäben festhalte. Oliver ist wieder zwei und rennt immer wieder in den Verkehr, aber diesmal kann ich ihn nicht zu fassen bekommen. Dieses Mal sitzt Jonathon in einem der Autos, die auf ihn zurasen.
Benicio legt seine Hand auf meine und löst meine Finger vorsichtig von den Gitterstäben. Er zieht mich an sich, drückt meine Wange gegen seine Brust und umschließt mich mit seinen Armen.
Mir wird klar, wie anders die Wahrheit im Vergleich zu Lügen klingt. Es sind nicht die Worte, es ist der Tonfall, eine bestimmte Frequenz, eine Vibration, Akkorde, die tief in der Brust angeschlagen werden. Ich stelle mir vor, wie ich versuche, Jonathon so etwas zu erklären. »Die Frequenz passt einfach nicht zu deinen Worten, wenn du mir sagst, dass du alles besser machen willst.«
Ich fange an zu kichern. Immerhin bin ich doch nicht verrückt. Die ganze Zeit hat meine innere Stimme auf mich eingeredet, die Wahrheit zu erkennen, aber noch bis vor wenigen Augenblicken habe ich versucht, das alles zu verdrängen, einschließlich meines eigenen Verstands.
Wie lange ist es her, seit ich so geweint habe, während mich jemand in den Armen gehalten hat? Wie lange habe ich mich danach gesehnt? Ich schluchze, bis Benicios Hemd nass ist von meinen Tränen. Es ist lächerlich. Peinlich. Ich kenne diesen Menschen ja nicht einmal, und doch scheint er mir vertrauter zu sein als mein eigener Mann. »Es tut mir leid«, krächze ich und wische mir mit der Hand das Gesicht ab.
»Was sollte Ihnen denn leidtun?«, erkundigt er sich.
»Ihr Shirt und überhaupt.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Hier ist es warm. Die Tränen werden Sie beruhigen«, sagt er und streicht mir über den Rücken.
Ich muss kurz lachen und sehe ihm in die Augen. »Ich muss wissen, was mit Oliver ist«, sage ich. »Haben Sie vielleicht irgendwas gehört? Haben die über ihn geredet?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas sagen.«
Ich schließe die Augen. Der Raum scheint sich um mich zusammenzuziehen. Es fällt mir schwer zu atmen. Fest schlinge ich meine Arme um Benicios Rücken, suche Halt bei ihm und spüre seine harten Muskeln unter meinen Fäusten. Sein Herz schlägt an meinem Ohr.
Mir ist vollkommen bewusst, dass ungewöhnliche Erfahrungen wie kaum etwas anderes Menschen zusammenführen können. Traumatische Erlebnisse verbinden die Herzen derjenigen, die ihnen gemeinsam ausgesetzt sind. Ich weiß auch, dass Schock und Schmerz Menschen dazu veranlassen können, Dinge zu tun und zu glauben, zu denen sie sonst nie in der Lage gewesen wären. Ich habe keine Ahnung, ob mir dasjetzt gerade passiert. Doch während Benicio mir über das Haar streicht, geben mir der sandige Geruch seiner Haut, die Stärke seiner Arme, sein Atem, der über meinen Nacken streicht, ein geborgeneres Gefühl, als ich es je erlebt habe. Ich fühle mich sicherer als in meinem eigenen Haus, wo immer die größte Herausforderung, mit der ich mich tagsüber auseinandersetzen musste, darin bestand, was ich zum Abendessen koche. Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass ich mich nicht mehr in Gefahr befinde, und trotzdem habe ich das Gefühl, solange er bei mir ist, wird mir nichts geschehen.
Der gleichmäßige Schlag seines Herzens lässt mich fast einnicken. »Sie sollten Ihren Kuchen aufessen«, flüstert er in mein Haar.
Ich aber bleibe genau dort, wo ich bin, solange er es mir erlaubt.
10
Stunden vergehen und niemand kommt. Während dieser Zeit lösen Benicio und ich uns wieder voneinander, sprechen aber kaum ein Wort. Er steht am Fenster, kaut an den Nägeln und sieht immer wieder auf seine Schuhe und dann hinaus, während ich auf dem Bett liege und an die Decke starre, die Hände über dem Bauch gefaltet, als sei ich tot.
Die Wahrheit erleichtert mich nicht unbedingt.
Vor vierzehn Jahren hatte ich es einfach nicht mehr ertragen können, Jonathon anzulügen. Ich hatte mein Weinglas auf dem Tisch abgestellt und ihm gestanden, dass ich eine Affäre habe. Jonathon senkte seine Gabel bis kurz über den Tellerrand. Mit der Faust packte er die Stoffserviette. Ich rechnete damit, dass er sie mir ins Gesicht schlagen würde; auch wenn der Schlag nicht sehr heftig hätte sein können, blinzelte ich unwillkürlich. Eine ganze Minute schien zu vergehen, in der nichts anderes zu hören war als das glitschige Geräusch, mit dem Oliver, der im Hochstuhl saß, seine Erbsen
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