Gefährliche Nebenwirkung (German Edition)
und Hügel und dann das klare blaue Wasser des Zürichsees vorbeiziehen.
Die kühle, reine Luft ist genau das, was ich brauche, als ich aus dem Zug steige. Die Pension befindet sich nur einen Kilometer von der Station entfernt. Ich klappe den Kragen des Mantels hoch und gehe los, eigentlich humple ich eher, am Fluss entlang, komme vorbei an ruhigen Bauernhöfen, Schafen, Weinstöcken und großen grünen Feldern, bis ich das Haus auf einem kleinen Hügel entdecke, dessen Hänge auf allen Seiten bepflanzt sind. Ein Weg führt zwischen den Feldern hindurch zur Vorderseite, ein weiterer auf der Rückseite davon. Das Haus ist aus weißem Stein mit einem Dutzend Fenster in doppelter Reihe an der Seite. Jedes einzelne besitzt rote Fensterläden. Aus einem Schornstein kräuselt sich eine Rauchfahne. In der Ferne erkenne ich die schneebedeckten Gipfel der Alpen. Irgendwie sieht alles aus wie im Märchen.
* * *
Ich schlafe wie ein Stein. Am nächsten Morgen finde ich in dem kleinen Speiseraum zu meiner großen Freude und genau, wie ich es erhofft hatte, die gekochten Eier, die Brötchen mit Orangenmarmelade und den frischen Kaffee vor. Der Tischist für eine Person gedeckt. Offensichtlich bin ich der einzige Gast.
»Guten Morgen!«, ertönt eine Stimme aus der Küche. Es ist nicht Frau Freymann, die Frau, die mich am Abend zuvor in Empfang genommen hat, sondern ein Mann, ein großer Mann mit frisch rasiertem Gesicht, weißem kurzem Haar und blassblauen Augen. Er spricht Hochdeutsch, damit ich ihn leichter verstehen kann, und er stellt sich als Frau Freymanns Bruder vor. Die Ähnlichkeit ist verblüffend.
»Zwillinge«, sagt er, als ich ihn anstarre.
Ich nicke. Es ist deutlich, dass er diesen Blick schon Tausende von Malen beantwortet hat.
»Bitte«, sagt er und deutet auf den Stuhl am gedeckten Tisch.
Ich setze mich und zu meiner Überraschung nimmt Herr Freymann mir gegenüber Platz. Wir beginnen das erste wirkliche Gespräch, das ich seit fast zwanzig Jahren auf Deutsch geführt habe. Meine Sätze kommen mir nur schwer über die Lippen, aber ich verstehe das meiste von dem, was er über den Hof und den See erzählt, und wenn nicht, bitte ich ihn, es zu wiederholen. Er scheint zu mögen, dass es mir nicht unangenehm ist zu fragen. Er sagt mir, dass ich Mut habe.
Sie haben ja keine Ahnung
, möchte ich am liebsten erwidern. »Danke«, sage ich stattdessen.
Schließlich erkundige ich mich nach Hagen Pharma ceuticals.
Er scheint verwirrt. Jeder kennt die Firma, sagt er. Alle bezeichnen sie noch so, obwohl sie inzwischen schon zweimal den Namen gewechselt hat.
Er deutet die Straße hinauf. »Fünf Kilometer«, sagt er. Es ist nicht weit. Er schlägt mir vor, eins der Fahrräder zu nehmen, die sie für Gäste bereithalten.
Dann kommt die Frage. »Warum?« Warum will ich dorthin?
In diesem Moment kommt Frau Freymann durch die Küche und setzt sich ihrem Bruder gegenüber. Sie hat die Frage gehört und möchte die Antwort ebenfalls erfahren.
Mein Blick gleitet zwischen den beiden hin und her, die männliche Version verschmilzt mit der weiblichen und umgekehrt. Es ist verwirrend. Ich versuche, eine schlüssige Geschichte zu erzählen. Es auf Englisch zu tun, wäre schon schwierig genug, ganz zu schweigen von Deutsch.
»Ich bin eine Hagen«, erkläre ich.
So, wie sie mich mit erhobenen Augenbrauen ansehen, verstehen sie entweder nicht, was ich meine, oder sie glauben mir nicht oder sie verstehen mich vollständig und glauben mir, haben aber Sorge, mir etwas Bestimmtes zu erzählen.
Es ist das Letztere. Sie fragen mich, ob ich das »Hagen-Haus« kennen würde.
Ich schüttle den Kopf.
Es ist ein Museum. Das Haus, in dem Annaliese und Walter gelebt haben, ist jetzt ein Museum, das von den Enkeln von Annalieses Brüdern und Schwestern eingerichtet worden ist. Sie sind die einzigen, die noch übrig sind. Noch am nächsten verwandt mit Annaliese. Zumindest dachten sie das.
Mir liegen so viele Fragen auf der Zunge. Wo leben sie? Wie lautet ihr Familienname?
»Seifert«, antwortet Frau Freymann. Annalieses Mädchenname. Ihre Brüder hatten viele Kinder, die selbst wiederum vieleNachkommen hatten. Es gibt sie überall. Und sie sind auch Nachbarn.
Ich möchte hinauslaufen und an Türen klopfen, mich vorstellen und Ähnlichkeiten zwischen ihren und meinem Gesicht feststellen. Aber die Banken haben bereits geöffnet und ich muss den Zug zurück in die Stadt erwischen. Der Zeitunterschied zwischen der Schweiz und der
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