Gefährliche Nebenwirkung (German Edition)
zumindest eine denkbare Möglichkeit, hätte ich ihn für verrückt erklärt.
Er blufft nur
, schreibe ich zurück.
Unter keinen Umständen wird er die Polizei rufen. Ignoriere ihn einfach. Ich komme, so schnell ich kann. Nur noch ein paar Tage. Es tut mir leid. Sag bitte auch Seth, dass es mir leid tut. Und, Oliver, ich danke dir, dass du mir vertraust. Ich liebe dich mehr, als du jemals ahnen wirst
.
Eine Minute später kommt:
Ich liebe dich auch, Mom
.
Ich sitze einen Moment einfach nur da und genieße es wie ein warmes Bad, lasse mich davon einhüllen, mich stärken. Was immer von nun an auch passiert, es wird mich schützen wie eine Rüstung im Kampf.
Ich schicke Willow eine E-Mail und lasse sie wissen, dass in Zürich heute Feiertag ist und ich vor morgen nichts werde herausfinden können. Ich frage, ob es bei ihr irgendetwas Neues gibt.
Minuten später …
Ich bin so froh zu hören, dass Sie heil angekommen sind! Sie werden es nicht glauben. Ich habe Neuigkeiten über Ihren schönen Mann. Benicio. Große Neuigkeiten. Er ist vor einer Stunde aufgetaucht. Im Moment schläft er in Ihrem alten Zimmer! Sie haben nicht übertrieben, als Sie gesagt haben, dass er gut aussieht. Mein Gott, selbst mit all den Verletzungen kann man das erkennen. Jedenfalls dachte ich, er fällt in Ohnmacht, als ich ihm gesagt habe, wo Sie hingeflogen sind. Im Ernst. Er saß da, mit dem Kopf zwischen den Knien, und brauchte erst mal ein Glas Wasser. Er war erschöpft, aber trotzdem nicht im Entferntesten in einem so schlechten Zustand wie Sie, als Sie hier herein gekrochen sind. Aber er war völlig am Boden zerstört. Man konnte es in seinen Augen sehen. Ich musste fast weinen, als ich sah, wie ihm dämmerte, dass er Sie nur um ein paar Stunden verpasst hat
.
Das wäre so weit alles. BITTE halten Sie michüber ALLES auf dem Laufenden. Ich weiß, wir kennen uns erst kurz, aber ich schwöre, ich habe das Gefühl, als würde ich Sie schon mein ganzes Leben kennen. Ziemlich abgedroschen, ich weiß. Aber wahr
.
Liebe Grüße
Willow
Ich würge den walnussgroßen Kloß in meiner Kehle herunter und wische mir die Tränen aus den Augenwinkeln, bevor es noch irgendjemand sieht. Ich tupfe meine laufende Nase mit meinem Ärmel ab. Müdigkeit, Verwirrung, aber auch Erleichterung überfallen mich mit so einer Macht, dass ich glaube, ichwerde meine Augen tagelang nicht mehr öffnen, wenn ich sie jetzt schließe. Ich bin mir sicher, dass Benicio mich angelogen hat. War die tiefe Bestürzung, die Willow beobachtet hat, nur ein weiterer seiner Auftritte?
Ich trete hinaus auf die belebte Straße, rieche frisch gebackenes Brot und heißen Kaffee, feuchtes Pflaster und leichten Zigarettenrauch. Es ist angenehm. Fremdartig. Einladend. Irgendwo wartet eine zur Hälfte mit Holz verkleidete Pension mit einem frischen weißen Federbett auf mich. Eine alte Frau wird mir zum Frühstück ein Ei kochen und frische Brötchen mit Marmelade servieren.
Herzlich willkommen
, wird sie sagen. Sie wird mir alles über die Geschichte des Hauses erzählen, die Generationen zurückreicht, über die Leute, die dort gelebt haben.
32
Ein Mann in der Touristeninformation am Hauptbahnhof bucht mir ein Zimmer in einer Pension in der Nähe von Hagen Pharmaceuticals oder besser TOHI. Er zeigt mir den richtigen Zug, lächelt, als sich die Türen schließen, und winkt mir nach, als ich davonfahre. Ich bin so erschöpft, so kurz vor dem Delirium, dass ich, kurz bevor ich in den Zug steige, mich noch einmal umdrehe und auf Deutsch sage: »Wissen Sie, wer ich bin? Die Urenkelin von Annaliese Hagen.«
Ich kämpfe dagegen an, dass mich der Zug in den Schlaf schaukelt. Ich stelle mir Benicio in dem Bett vor, das ich erst vor wenigen Stunden verlassen habe. Blut rauscht mir durch Kopf und Brust und hält mich wach. Je länger ich ihn mir vorstelle, wie er ausgestreckt auf dem Laken liegt, sein Kopf auf meinem Kissen, seine Hand, die durch mein Haar fährt, desto stärker wird das Ziehen, das ich zwischen meinen Beinen verspüre.
Ich hatte nicht erwartet, dass es sich so anfühlen würde
.
Wie anfühlen?
Ich glaube, das weißt du genau
.
Ein Mann in einer blauen Uniform schreckt mich auf, weil er mir eine Lochzange unter die Nase hält.
Das Zugticket. Natürlich. Ich fühle in der Tasche des Mantels nach dem Ticket. Er stanzt ein Loch hinein und geht weiter.
Ich verdränge Benicio aus meinen Gedanken, während die sauberen, schmucken, wie gemalten Straßen, Grünflächen
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