Gefährliche Nebenwirkung (German Edition)

Ich schnuppere an Willows Jacke und spüre etwas, das dem Gefühl von Glück sehr nahe kommt.
    Das Abfahrtsignal lässt mich zusammenzucken. Es gibt kein Zurück. Ich bin auf dem Weg sowohl in meine Vergangenheit als auch in meine Zukunft. Der Zug schießt aus dem Tunnel, in der Ferne sehe ich Häuser, die zur Hälfte mit Holz verkleidet sind, Kirchturmspitzen, Hügel in zehn verschiedenen Grüntönen. Im Hintergrund gleiten die Schweizer Alpen vorbei,zerklüftet und weiß, uralte Vorfahren bewachen die Hügel. Die Häuser, das Land, die Berge sehen seit Jahrhunderten so aus. Annaliese und Sonja hatten genau dasselbe Bild gesehen.
    Noch einmal lese ich ihre beiden Briefe. Ich vertiefe mich in den Stadtplan und lese die Briefe erneut. Als der Zug den Hauptbahnhof erreicht, haben sich ihre Worte und Geschichten in mir zu einem festen Strang verwoben, wie meine eigene DNS. Ich habe einen Ort erreicht, an dem ich noch niemals war, der mir aber so vertraut vorkommt wie meine Heimat.
    Die Zugtüren gleiten auf. Ich vibriere vor Energie, die von so vielen Quellen gespeist scheint, während ich durch die Straßen von Zürich laufe. Eine Tafel mit digitalen Zahlen in einem Schaufenster einer Filiale der USB zeigt fünfzehn Grad Celsius. Immer wieder taucht die Sonne zwischen den Wolken auf.
    Mein Bein ist ganz steif, weil ich so viele Stunden gesessen habe, und es schmerzt, als ich die Bahnhofsbrücke über die Limmat zur Ostseite überquere. Ich schlendere am Ufer entlang. Alle paar Minuten rumpelt die Straßenbahn vorbei. Laut meinem Stadtplan muss sich auf der anderen Seite des Flusses der Finanzdistrikt befinden. Ich frage mich, ob Annaliese und Sonja auf dieser Seite des Flusses gelebt haben oder auf der anderen. Ich stelle mir vor, wie Annaliese dort steht, wo ich jetzt stehe, und ihren Blick über die gleichen mittelalterlichen Straßen wandern lässt und ihr Blick sich in den verspielten Bögen, Fensterläden, Stützpfeilern, dem grünen Kupferdach der Kirche verliert. Aber Annaliese war angespuckt worden. Annaliese war vergewaltigt worden. Diese wunderschönen mittelalterlichen Straßen haben für sie vielleicht etwas ganz anderesbedeutet. Und was für eine fürchterliche Tragödie, wenn etwas so Schönes für etwas derart Abscheuliches steht.
    Ich sehe mich um, noch müde von der Zeitverschiebung, und bin mir eigentlich nur halb bewusst, dass ich nach der Metzgerei suche, die Annaliese in ihrem Brief erwähnt hat.
    Fahrräder stehen am Straßenrand. Die Bäume zeigen die ersten Zeichen des Frühlings, aber auf den Bürgersteigen breiten sich schon die Straßencafés aus. Sie sind voller Menschen mit bunten Schals. Jeder von ihnen wirkt auf mich sehr professionell, als ob er das, was er tut, egal, was es ist, sehr gut macht. Einige halten Zigaretten in der Hand, die meisten einen Kaffee, während sie mit der anderen gestikulieren. Leute drängen sich an den Schaufenstern entlang, und mir fällt auf, dass keiner eins der Geschäfte betritt. Ein Schild in einer Boutique erklärt warum. Es ist Feiertag. Alle Läden außer Restaurants und Cafés sind geschlossen. Das gilt auch für die Banken.
    Das unebene Kopfsteinpflaster bringt mich aus dem Gleichgewicht. Ein Muskel auf einer Seite ist überanstrengt. Ich gehe zurück zur Promenade, die am Fluss entlangführt, bis ich auf ein Internetcafé stoße.
    Weiß, spartanisch, mit Edelstahl und etwas Holz. Das Café sieht genauso aus wie eins zu Hause im Pearl District von Portland. Zuerst maile ich Oliver, denn ich weiß, dass er sofort ans Telefon gehen wird. Ich fasse mich kurz. Er hat genug um die Ohren, nachdem er gerade bei Leuten eingetroffen ist, die ihm vollkommen fremd sind. Ich entschuldige mich dafür, dass ich nicht dort bin. Schreibe ihm, dass ich mich verspäte, aber in Sicherheit bin. Hat er von seinem Vater gehört? Ich schicke ihm all meine Liebe.
    Fünf Minuten später …
    Bin vor zwei Stunden angekommen. Seth scheint ziemlich cool zu sein. Seine Frau Julia hat mir draußen auf dem Grill einen Hamburger gemacht. Wusstest du, dass Seth sich in seinem Haus ein Musikzimmer eingerichtet hat? Mit Schlagzeug und allem. Wir wollen gerade anfangen zu spielen. Es gibt sogar ein paar Bands, die wir beide mögen. Er lässt dich gr üßen. Wann kommst du? Dad ruft NONSTOP an und schreibt SMS. Er sagt, er habe die Polizei gerufen
.
    Ich kann das fremdartige Gefühl nicht abschütteln, dass Oliver bei Seth in Minneapolis ist. Wenn mir jemand erzählt hätte, das sei