Gefaehrliche Schatten
von den Steinen und fuhr ins Nichts. Ein Tunnel. Noah wandte sich dorthin, konnte aber durch den Schwarm von Schmetterlingen hindurch nichts sehen. Er bemühte sich, seine Angst zu unterdrücken, und ging weiter. Nach ein paar Schritten verschwanden die Schmetterlinge, und er sah die Treppe, die er heruntergekommen war. Er blickte zurück: Die Schmetterlinge schwärmten zwischen den beiden Abzweigungen hin und her.
Er wusste nicht, wohin die Schmetterlinge wollten, und es war ihm auch egal. Er wollte nur noch raus aus den Grotten. Hastig kletterte er die Stufen hinauf und spähte hinter dem Felsen hervor.
Das ältere Paar war nirgendwo zu sehen. Er hastete durch die Bäume und glitt unter der Absperrung hindurch wieder auf die Lichtung. Erschrocken keuchte er auf. Die fünfköpfige Familie stand mit den Rücken zu ihm am gegenüberliegenden Rand der Lichtung. Noah hatte sie ganz vergessen.
Eines der Kinder hatte Noah offenbar gehört und drehte sich um. Es war etwa vier Jahre alt und hatte einen schokoladenverschmierten Mund. Es lächelte breit und deutete auf Noah. «Guck mal, Mami!», rief es.
Die Mutter drehte sich um und klappte überrascht den Mund auf. Sie hielt sich die Hand davor und zupfte ihren Mann mit der anderen am Ärmel. «Ähh … Dale?»
Als der Vater Noah erblickte, machte er einen Schritt zurück und riss entsetzt die Augen auf. «Oh Gott!», sagte er. «Was ist denn mit dir passiert?»
Noah wusste nicht, was er meinte. «Wieso?»
«Wie ist das …» Die Stimme des Vaters versagte, und er deutete auf Noahs Körper.
Noah blickte an sich herab und fiel bei seinem eigenen Anblick beinahe in Ohnmacht: Er war über und über mit Schmetterlingen bedeckt. Wie Kleidungsstücke hingen sie an ihm.
Noah spürte, wie er rot wurde. «Ich … ich weiß auch nicht», brachte er heraus. Dann fuhr er mit den Händen über seinen Oberkörper, als würde er sich Staub abklopfen. Schmetterlinge flatterten in die Luft.
Die Eltern starrten ihn weiter mit offenem Mund an. Bevor sie noch weitere Fragen stellen konnten – vielleicht danach, wer er eigentlich war –, drehte Noah sich um und rannte los. Am Ausgang des Geheges stürmte er durch die Tür und floh hinaus aus dem immer befremdlicheren und verwirrenderen Zoo.
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16. Kapitel
Der Wilde Walt
A m nächsten Tag aßen die Scouts an ihrem üblichen Platz in der Schulcafeteria zu Mittag. Wie immer hatten alle Schüler ihre Manieren an der Tür abgegeben. Sie kreischten, lachten und aßen Chips mit offenem Mund, dass die Krümel nur so herumflogen. Das heutige Gericht bestand aus einem gummiartigen Stück Fleisch, einem Haufen Kartoffelbrei und Gemüse: grüne Bohnen oder halbgarer Mais, der sich großer Beliebtheit erfreute, weil man ihn als Munition für die Katapulte aus Plastikgabeln benutzen konnte. Keiner der Scouts hatte Appetit. Richie stocherte in seinem Essen herum und suchte mit der Gabel nach etwas Leckerem.
Während die Scouts noch leise die Ereignisse im Schmetterlingsnetz besprachen, näherten sich drei Kinder ihrem Tisch. Es waren Walter White und seine zwei Gefolgsleute Dave und Dug. Walts Ruf war legendär. Er galt nicht nur an der Schule von Clarksville, sondern in der ganzen Gegend als gemeinster Junge überhaupt. Während die meisten Schultyrannen groß waren, war Walt breit – und zwar sehr breit. Seine Schultern waren etwa doppelt so breit wie die der meisten Kinder, was seinen Kopf im Vergleich lächerlich klein wirken ließ. Wenn er ging, schwang er seine riesigen Schultern hin und her. Über die fünf Jahre seiner Schulzeit hinweg hatten diese Schultern unzählige Schüler getroffen und ihm den Namen Wilder Walt eingebracht.
Als der Wilde Walt näher kam, brachen die Scouts ihr Gespräch ab. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es besser war, in Gegenwart von Walt unsichtbar zu werden. Walt deutete mit dem Daumen auf die Scouts und sagte zu seinen Kumpels: «He, seht mal – die Action Deppen.»
Wie auf Befehl fingen seine Kumpane an zu kichern. Dug warf Richie eine grüne Bohne an den Kopf, die abprallte und ihm in seine Milchtüte fiel. Dave und Dug klatschten sich begeistert ab.
Die Scouts sagten nichts, was den Wilden Walt veranlasste, «Hab ich’s mir doch gedacht» zu sagen. Das sagte er immer. Beinahe jeden Tag hörte man den Wilden Walt in den Gängen andere Schüler terrorisieren und «Hab ich’s mir doch gedacht», sagen. Manchmal fragte sich Noah, ob Walt weniger daran interessiert
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