Gefaehrliche Tiefen
hier eine »leichte Strömung« herrschte, war eine Untertreibung. Die Kraft des Wassers drückte ihren Körper in eine waagerechte Position, wie eine Flagge. Immerhin war das Wasser hier lauwarm, nicht eiskalt wie manch andere Strömung bei den Galapagosinseln. Der Fels unter ihr lockte mit Korallen, Schwämmen und regenbogenfarbenen Fischen.
Ein Schwarm gelber Zackenbarsche löste sich bei ihrem Auftauchen vom unteren Ende der Bojenkette und wirbelte die konfettikleinen Teile des unglücklichen Wesens auf, von dem sie gerade gefressen hatten. Nachdem die Strömung Sam wie einen Steppenläufer über den Gipfel gescheucht hatte, formierte sich der Schwarm hinter ihr neu. Sie kämpfte sich nach unten, bis sie erleichtert feststellte, dass sie den Schutz der breiteren Felsseite erreicht hatte. Als sie wieder kontrolliert atmete, entdeckte sie Dan etwa neun bis zwölf Meter unter sich. Er wurde weitgehend von über ihm hin und her schieÃenden Fischen verdeckt, aber seine Luftblasen stiegen in regelmäÃigen Intervallen nach oben â ein beruhigender Umstand. Sie hatten vereinbart, dass er seine Zählungen heute allein durchführen würde; er wusste, dass sie Material für ihren ersten Bericht sammeln musste.
Entschlossen sich zu entspannen, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Felsvorsprung direkt vor ihr. Zwischen den zerklüfteten Lavazacken lagen verschiedene Bootswrackteile. Vieles davon war nicht mehr zu identifizieren, weil es mit rosa- oder lilafarbenen Flecken überzogen war â neue Ansiedlungen von Korallen und Schwämmen â, aber ein alter Anker und ein Stück Kette waren noch deutlich zu erkennen. Sam stieà auf einen bedrohlich aussehenden Fischhaken, der erst kürzlich verloren gegangen sein musste, denn es wuchs noch kaum etwas darauf. Auf einem kleinen Metallschild, das nur noch an einer Schraube hing, konnte Sam sogar ein paar Buchstaben erkennen. Fische jagten über die Trümmer hinweg und labten sich an rosafarbenen Massen. Sie ballten sich jeweils zu einem dichten Schwarm zusammen, schnappten sich ein paar Bissen und schossen dann wieder auseinander, um die Beute in sicherem Abstand voneinander zu verschlingen.
Nicht weit von Sams linkem Ellbogen entfernt tauchte ein Barrakuda auf. Der Jäger mit den scharfen Zähnen war nur knapp einen Meter lang, aber sein ausdrucksloser Blick und die völlige Reglosigkeit hatten etwas FurchteinflöÃendes. Misstrauisch betrachtete Sam ihn. Er schien nur Augen für die Wolke aus hellblauen Fischen vor ihr zu haben, aber vielleicht betrachtete er ja auch ihre GliedmaÃen oder die silbernen ringförmigen Ohrringe, die sie â wie ihr erst jetzt auffiel â vergessen hatte herauszunehmen. Plötzlich schoss der Barrakuda los. Mit einem leisen Aufschrei paddelte sie ein Stück zurück, während die blauen Fische ihr Mahl sausen lieÃen und in alle Richtungen davonstoben. Der Barrakuda beschrieb einen engen Kreis durch den plötzlich leeren Raum, schnappte sich einen groÃen Brocken Fleisch, den er zwischen den Schwämmen entdeckt hatte, und verharrte dann oberhalb der Ãberreste eines grauen Körpers, der zwischen stacheligen orangefarbenen Korallen eingeklemmt war.
Sam zwang sich, gleichmäÃig zu atmen, und hob die Kamera. Jetzt, wo auÃer dem Barrakuda keine Fische mehr herumwuselten, sah man erst, was für eine grässliche Szene das kleine Plateau darbot. Verteilt über die Lavalandschaft lagen die Leichen von mindestens einem halben Dutzend Haien. Bei zweien, die noch nicht völlig abgenagt waren, konnte Sam deutlich die Stellen erkennen, an denen Steaks herausgeschnitten worden waren. An Rücken, Seiten und Schwanz fehlten die Flossen.
Sie machte ein paar Fotos von dem Blutbad, dann schaltete sie auf Video um und filmte die Szene. Weiter unten konnte sie auf Felsvorsprüngen noch mehr Fischreste sehen, an denen sich hin und her schieÃende Gestalten gütlich taten. Neugierig geworden lieà sie ein wenig Luft aus ihrer Weste und sank tiefer.
Die Strömung trieb sie von der Lavasäule fort. Ihr Puls begann zu rasen. Sie trat kräftig aus, um in den Schutz des Felsens zurückzukommen, und zwang sich, tief einzuatmen und ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen. Als sie hochblickte, musste sie voller Schrecken feststellen, dass kaum mehr als einen Meter über ihr ein Hammerhai dahinglitt. Er war höchstens einen
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