Gefährliche Trauer
folgten drei Kutschen, jede randvoll mit schwarzgekleideten Trauergästen. Wieder spürte Monk einen kurzen Stich eigenartiger Vertrautheit. Er wußte, warum sie so dicht nebeneinandergedrängt saßen, warum die Pferdegeschirre glänzten wie Silber, aber keine Familienwappen an den Türen prangten. Hier wurde ein armer Mensch zu Grabe getragen. Die Kutschen waren gemietet, doch man hatte keine Kosten gescheut. Die Pferde waren schwarz, nicht braun oder kastanienrot. Jeder hatte Blumen geschickt, auch wenn es dann für den Rest der Woche nichts mehr zu essen gab und man abends an einem erloschenen Feuer saß. Der Tod verlangte gebührende Beachtung, und die Nachbarn durften nicht durch ein armseliges Schauspiel enttäuscht werden. Die Armut wurde um jeden Preis vertuscht, denn eins ließ man sich auf keinen Fall nehmen: den letzten Tribut einer anständigen Beerdigung.
Monk stand mit dem Hut in der Hand auf dem Bürgersteig und schaute dem Zug hinterher. Er fühlte sich den Tränen nahe, nicht wegen der unbekannten Leiche oder der Hinterbliebenen, sondern wegen der vielen Menschen, denen es so verzweifelt wichtig war, was man von ihnen dachte - zudem wurde er durch ihren Anblick dunkel an seine eigene Vergangenheit erinnert. Egal welche Träume er hatte, bei ihnen war sein Platz, nicht bei den Bewohnern der Queen Anne Street oder ihresgleichen. Er trug inzwischen elegante Anzüge, aß leidlich gut und war absolut unabhängig, aber seine Wurzeln lagen in engen Gassen, wo jeder jeden kannte, wo keiner bei einer Hochzeit oder einem Begräbnis fehlte, wo man über alle Höhepunkte eines Menschenlebens Bescheid wußte: Geburten, Krankheiten, Sehnsüchte, Verluste. Und wo es keine Privatsphäre gab und keine Einsamkeit.
Wer war dieser Mann, an dessen Gesicht er sich plötzlich so deutlich erinnert hatte, als er vor dem Klub am Piccadilly stand? Was hatte ihn getrieben, nicht nur seinem Geist, sondern auch seinem Akzent und seiner Ausdrucksweise, seinem Kleidungsstil und seinem Gang nachzueifern?
Auf der Suche nach einem eindeutigen Hinweis auf ein Bindeglied zwischen sich und den Trauergästen, wanderten seine Augen noch einmal über die lange Wagenreihe. Als die hinterste Kutsche langsam an ihm vorbeirollte, erhaschte er einen flüchtigen Blick auf das Gesicht einer Frau. Es war nicht hübsch, die Nase zu breit, der Mund groß, die Brauen niedrig und gerade, aber es kam ihm so bekannt vor, daß er unwillkürlich nach Luft schnappte. Er hatte ganz kurz die Vision einer anderen, eher unattraktiven Frau mit tränennassen Wangen und unglaublich schönen Händen, an denen er sich nicht sattsehen konnte. Und er spürte plötzlich die ganze Last einer alten Schuld, ohne zu wissen, warum oder wie lang sie zurücklag.
7
Gefaßt und selbstsicher stand Araminta vor Monk im Boudoir, dem speziell für Entspannung und Bequemlichkeit der weiblichen Familienmitglieder gedachten Raum. Er war mit luxuriösen, schmuckvollen Louis-XVI-Möbeln ausgestattet, überall stachen ihm Schnörkel und Verzierungen, Blattgold und Samt ins Auge. Die Vorhänge waren aus Brokat, die rosa Tapeten mit Gold gaufriert. Die feminine Ausstrahlung des Raumes war erdrückend, und Araminta wirkte in diesem Rahmen vollkommen fehl am Platze, was nicht an ihrer eindrucksvollen Erscheinung, sondern an ihrer Körperhaltung lag. Sie strahlte etwas unterschwellig Aggressives aus, nichts Nachgiebiges, nichts Weiches, das zu dem Liebreiz dieses rosaroten Zimmers gepaßt hätte.
»Ich bedaure sehr, Ihnen das mitteilen zu müssen, Mr. Monk.« Sie sah ihn unverwandt an. »Der Ruf meiner Schwester liegt mir natürlich am Herzen, aber in der momentan angespannten, traurigen Situation wird uns nur die Wahrheit weiterhelfen. Diejenigen von uns, die dadurch noch schlimmer verletzt werden, müssen eben versuchen, so gut wie möglich damit zurechtzukommen.«
Monk öffnete den Mund, um etwas Beschwichtigendes und Aufmunterndes zu sagen, doch sie hatte keinen Bedarf an tröstenden Worten. Sie fuhr mit absolut kontrollierter Stimme und vollkommen ausdruckslosem Gesicht fort:
»Meine Schwester Octavia war ein überaus charmanter, gütiger Mensch.« Sie wählte ihre Worte mit äußerster Sorgfalt; diese Rede hatte sie vorher einstudiert. »Wie die meisten Leute, die nett zu andern sind, genoß sie es, bewundert zu werden - ja, sie gierte förmlich danach. Als ihr Mann, Captain Haslett, im Krimkrieg umkam, war das für sie natürlich ein furchtbarer Schlag, aber das liegt
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