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Gefährliche Trauer

Gefährliche Trauer

Titel: Gefährliche Trauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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verschwand. Nach einer weiteren Viertelstunde kam er zurück, im Schlepptau ein mageres Mädchen mit eckigen Schultern und ausgemergeltem, wächsernem Gesicht. Ihr braunes Haar war kräftig, aber glanzlos, den großen blauen Augen fehlte jeder Lebensfunke. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, daß sie noch vor zwei Jahren sehr schön gewesen war doch jetzt machte sie einen vollkommen apathischen Eindruck. Sie hatte die Arme unter dem Latz ihrer schlechtsitzenden Uniformschürze aus hartem, grauem Stoff verschränkt und betrachtete Monk mit einem Blick, der weder Intelligenz noch Interesse verriet.
    «Ja, Sir?« fragte sie unterwürfig.
    »Martha«, Monks Stimme klang ungewöhnlich sanft. Sein Mitleid mit ihr lag ihm im Magen wie Blei, durchbohrte ihn wie ein glühender Schmerz. »Martha, haben Sie vor etwa zwei Jahren bei Sir Basil Moidore gearbeitet?«
    »Ich hab nichts gestohlen.« Sie sagte es ohne jede Spur von Protest, im nüchternen Tonfall einer Feststellung.
    »Ja, ich weiß«, versicherte er hastig. »Ich wollte Sie fragen, ob Mr. Kellard sich stärker um Sie bemüht hat, als Ihnen lieb gewesen ist?« Was für eine schönfärberische Art, sich auszudrücken, aber er hatte Angst, daß sie ihn falsch verstand, daß sie am Ende annahm, er wollte sie als Lügnerin und Unruhestifterin hinstellen, alte, sinnlose Anschuldigungen aufwärmen, denen ohnehin niemand Glauben schenkte, und sie noch mehr für ihre vermeintlich üble Nachrede bestrafen. Er beobachtete aufmerksam ihr Gesicht, entdeckte jedoch kein Anzeichen für eine tiefere Gemütsregung, lediglich ein leichtes, nicht zu deutendes Aufflackern. »Hat er, Martha?«
    Unschlüssig und stumm starrte sie ihn an. Das Leben im Armenhaus hatte ihr jeden Kampfgeist genommen.
    »Martha«, fuhr Monk freundlich fort, »er könnte das gleiche noch einmal getan haben, diesmal nicht mit einem Dienstmädchen, sondern mit einer Dame von Stand. Ich muß wissen, ob Sie damals einverstanden gewesen sind oder nicht - und ob tatsächlich er derjenige war.«
    Sie schaute ihn immer noch schweigend an, aber in ihren Blick trat ein kaum merklicher Schimmer, ein erster schwacher Hauch von Leben.
    Er wartete.
    »Sagt sie das?« fragte sie schließlich. »Sagt sie, sie wäre nicht einverstanden gewesen?«
    »Sie sagt gar nichts - sie ist tot.«
    Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen und allmählichem Begreifen, als ihr eigenes Erlebnis wieder an die Oberfläche ihres Bewußtseins stieg.
    »Hat er sie umgebracht?«
    »Ich weiß es nicht«, gab Monk offen zu. »War er brutal zu Ihnen?«
    Sie nickte. Die Erinnerung an Furcht und Schmerz stand ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben, als würde sie das Ganze in Gedanken noch einmal durchmachen. »Ja.«
    »Haben Sie es irgendwem erzählt?«
    »Wozu? Sie haben mir nicht mal geglaubt, daß ich nicht einverstanden war. Sie haben gesagt, ich hätte ein böses Mundwerk, wollte nur Schwierigkeiten machen und hätte nichts Besseres verdient. Sie haben mich ohne Zeugnis aus dem Haus gejagt. Ich konnte keine neue Stelle finden, niemand wollte mich ohne Zeugnis nehmen. Außerdem war ich schwanger.« Ihre Augen schwammen plötzlich in Tränen. Sie war wieder voll Leben - Leben, Leidenschaft und Zärtlichkeit.
    »Was geschah mit dem Kind?« fragte Monk, obwohl er sich vor der Antwort fürchtete. Er spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog, wie er sich für eine schreckliche Wahrheit wappnete.
    »Meine Tochter ist hier, bei den andern Kindern«, sagte sie ruhig. »Ab und zu darf ich sie sehen, aber sie ist nicht sehr kräftig. Wie sollte sie auch - hier geboren und dazu verdammt, hier aufzuwachsen.«
    Monk nahm sich fest vor, mit Callandra Daviot zu sprechen. Bestimmt konnte sie noch ein Dienstmädchen gebrauchen, Arbeit gab es schließlich immer. Martha Rivett war zwar nur eine unter Tausenden, aber besser eine gerettet als gar keine.
    »Er hat Sie sich also gefügig gemacht?« wiederholte er. »Und Sie haben keinen Zweifel daran gelassen, daß Sie seine ›Zuwendung‹ nicht wollten?«
    »Er hat mir nicht geglaubt. Er konnte sich nicht vorstellen, daß eine Frau es ernst meint, wenn sie nein zu ihm sagt. Nicht mal Miss Araminta! Er hat behauptet, es würde ihr gefallen, mit Gewalt genommen zu werden, aber das glaube ich nicht. Ich war schon im Haus, als sie ihn geheiratet hat - und damals war sie wirklich sehr verliebt in ihn. Sie hätten nur ihr Gesicht sehen sollen, ganz weich und voller Erwartung. Aber nach der Hochzeitsnacht

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