Gefährliche Trauer
verständliche Erklärung für etwas zu finden, das sie noch nie in Worte gefaßt hatte. »Sie fühlen sich leer, sind unsicher, einsam. Sie können sich nur dann spüren, wenn andere ihnen zuhören und ihnen gebührende Beachtung schenken.«
»Sie will bewundert werden!« Mary lachte bitter auf.
»Verachtung - das wird sie kriegen! Was sie getan hat, war widerlich und böse. Ich schwör Ihnen, das vergißt ihr hier keiner mehr.«
»Ich glaube nicht, daß ihr das viel ausmachen wird«, sagte Hester trocken, während sie an Fenellas Einstellung zu Dienstboten dachte.
Mary lächelte durchtrieben und meinte grimmig: »Und ob es das wird! Sie kriegt morgens keine heiße Tasse Tee mehr, lauwarm wird er sein. Es tut uns natürlich schrecklich leid, wir wissen gar nicht, wie so etwas passieren konnte - aber es wird weiterhin passieren. Ihre besten Kleidungsstücke werden rätselhafterweise im Waschraum verlorengehen, andere sind auf einmal halb zerfetzt - und niemand weiß warum. Man hat sie eben so gefunden! Ihre Briefe werden bei der falschen Adresse landen oder gar nicht ankommen, Nachrichten für sie oder von ihr ewig lang brauchen. Ihre Zimmer werden nicht geheizt sein, weil der Lakai vor lauter Arbeit vergessen hat, Feuer zu machen, ihren Nachmittagstee wird sie erst am Abend kriegen. Glauben Sie mir, Miss Latterly, es wird ihr eine ganze Menge ausmachen! Und weder Mrs. Willis noch die Köchin werden sich da einmischen. Sie werden genauso unschuldig, ahnungslos und von oben herab sein wie der Rest von uns. Sogar Mr. Phillips wird nicht aus der Reihe tanzen. Er bildet sich vielleicht ein, er wäre ein verkannter Herzog, aber wenn's drauf ankommt, ist er absolut loyal. Immerhin ist er einer von uns.«
Hester mußte gegen ihren Willen schmunzeln. Obwohl das alles sehr banal war, entbehrte es nicht einer ausgleichenden Gerechtigkeit.
Mary registrierte ihren Gesichtsausdruck. »Alles klar?« fragte sie verschwörerisch.
»Alles klar«, versicherte Hester. »Klingt wirklich gut.« Immer noch schmunzelnd, nahm sie ihre Schürze und ging.
Beatrice saß auf einem Ankleidestuhl vor dem Fenster und starrte in den Regen hinaus, der lautlos in den kahlen Garten fiel. Es war einer dieser tristen, farblosen Januartage, an denen vor dem Dunkelwerden gewöhnlich Nebel aufstieg.
»Guten Tag, Lady Moidore«, sagte Hester freundlich. »Es tut mir leid, daß Sie sich nicht wohl fühlen. Kann ich etwas für Sie tun?«
Beatrice rührte sich nicht vom Fleck.
»Könnten Sie vielleicht die Uhr zurückdrehen?« fragte sie mit einem winzigen, selbstironischen Lächeln.
»Wenn ich könnte, hätte ich es bestimmt schon oft getan«, gab Hester zurück. »Aber glauben Sie wirklich, es würde einen Unterschied machen?«
Beatrice schwieg eine Weile, seufzte dann und stand schwerfällig auf. Mit ihrer flammenden Haarpracht über dem pfirsichfarbenen Morgenmantel verströmte sie die ganze Wärme eines sterbenden Sommers.
»Nein - wahrscheinlich nicht den geringsten«, sagte sie verdrossen. »Wir wären immer noch dieselben, und genau da liegt der Hund begraben. Wir hätten ausschließlich unsere Bequemlichkeit im Sinn, würden alles tun, um unseren Ruf zu retten und den anderer Menschen zu zerstören.« Sie beobachtete die kleinen Sturzbäche, in denen der Regen an den Fensterscheiben hinunterlief. »Ich war mir nie bewußt, wie eitel Fenella ist, mit welcher Lächerlichkeit sie versucht, ihre Jugend festzuhalten. Wenn sie nicht so leichtfertig bereit wäre, andere Menschen zu zerstören, nur um auf sich aufmerksam zu machen, würde sie mir leid tun. Wie die Dinge liegen, kann ich mich nur für sie schämen.«
»Vielleicht ist es alles, was sie ihrer Meinung nach hat.« Auch Hester fand Fenellas Bereitschaft, andere zu verletzen, widerwärtig, besonders was ihre Enthüllungen über das Personal betraf, denn dazu hatte nicht der geringste Grund bestanden. Aber sie sah auch die Furcht, die dahinter liegen mußte; Fenella versuchte mit allen Mitteln, von Basil und seiner bedingten Barmherzigkeit unabhängig zu sein, sofern Barmherzigkeit das richtige Wort war.
Endlich drehte Beatrice sich zu ihr um; ihr Blick war offen und direkt.
»Sie verstehen es, nicht wahr? Sie verstehen, weshalb wir all diese schäbigen Dinge tun?«
Hester war nicht sicher, ob sie sich in Ausflüchte retten sollte.
Takt war vermutlich etwas, das Beatrice jetzt am wenigsten brauchen konnte.
»Ja. Das ist nicht besonders schwer.«
Beatrice schaute wieder weg. »Ich
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