Gefährliche Trauer
darüber zerbrechen zu müssen. Aber dann schrecke ich wieder davor zurück wie vor einem grausigen Anblick - einem abgetrennten Kopf in einem Eimer voller Würmer beispielsweise, nur schlimmer.« Sie fuhr erneut auf ihrem Stuhl herum. »Jemand aus meiner eigenen Familie hat meine Tochter ermordet. Sie haben alle gelogen. Octavia war nicht so, wie sie behauptet haben, und der Gedanke, daß Percival sich solche Freiheiten erlaubt haben soll, die bloße Vorstellung, er könnte dazu imstande gewesen sein, ist absolut lächerlich.«
Sie zuckte ruckartig mit ihren schmalen Schultern, eine harte Bewegung, die unsanft an dem zarten Seidenstoff ihres Morgenmantels zerrte.
»Ich weiß, sie trank manchmal etwas zuviel, aber bei weitem nicht solche Mengen wie Fenella. Wenn Fenella diejenige wäre, die umgebracht worden ist, ergäbe das alles einen Sinn. Sie würde jeden Mann ermutigen.« Ihr Gesicht verdüsterte sich.
»Nein, gewöhnlich pickt sie sich die Reichen heraus. Eine Zeitlang hat sie Geschenke von ihren ›Freunden‹ angenommen, die sie bei Pfandleihern zu Geld machen konnte, um sich Kleider und Parfüm zu kaufen. Irgendwann hörte sie dann mit dem Theater auf und nahm gleich das Geld. Basil hat selbstverständlich keine Ahnung. Er wäre entsetzt. Wahrscheinlich würde er sie vor die Tür setzen.«
»Könnte Octavia nicht das gemeint haben, als sie zu Septimus sagte, sie hätte etwas in Erfahrung gebracht?« fragte Hester eifrig. »Ist das am Ende des Rätsels Lösung?« Erst hinterher wurde ihr klar, wie unsensibel ihr Enthusiasmus war. Fenella gehörte schließlich zur Familie, auch wenn sie oberflächlich und boshaft war - und seit der Gerichtsverhandlung ein öffentliches Ärgernis darstellte. Hester versuchte, wieder eine ernste Miene aufzusetzen.
»Nein«, erwiderte Beatrice tonlos. »Octavia war schon seit Jahren darüber im Bilde, ebenso Minta. Wir haben Basil nichts davon erzählt, weil wir ihr Verhalten zwar verachteten, aber verstehen konnten. Man tut die erstaunlichsten Dinge, wenn man kein Geld hat. Man ersinnt alle möglichen Mittel und Wege, und die sind für gewöhnlich nicht besonders schön, zuweilen nicht einmal anständig.« Mit fahrigen Bewegungen zog sie den Stöpsel eines Parfumflakons heraus. »Wir sind manchmal unglaublich feige; so gern ich diese Erkenntnis auch verdrängen möchte, es geht leider nicht. Nichtsdestotrotz würde Fenella sich mit einem Lakai nicht auf mehr als einen kleinen Flirt einlassen. Sie ist eitel und grausam, hat furchtbare Angst vor dem Altwerden, aber eine Hure ist sie nicht. Jedenfalls - ich meine, sie läßt sich nicht einfach mit Männern ein, weil es ihr Spaß macht.« Sie erschauerte jäh und stieß den Glaspfropfen derart heftig in den Flaschenhals, daß sie ihn nicht mehr herausbekam. Mit einem gedämpften Fluch verbannte sie den Flakon in die hinterste Ecke ihrer Frisierkommode.
»Ich dachte immer, Araminta wüßte nichts davon, daß Myles das Stubenmädchen vergewaltigt hat, aber vielleicht stimmt das gar nicht? Vielleicht wußte sie auch, daß er über das normale Maß hinaus an Octavia interessiert war? Unser lieber Myles ist ebenfalls überaus eitel. Er bildet sich ein, keine Frau könne ihm widerstehen.« Sie zog die Mundwinkel herab und lächelte dabei.
»Bei vielen liegt er vermutlich gar nicht falsch. Er sieht gut aus, ist charmant - aber Octavia konnte ihn nicht leiden. Es fiel ihm nicht leicht, sich damit abzufinden. Vielleicht war er entschlossen, sie zu einem Gesinnungswechsel zu bewegen. Manche Männer finden Gewalt durchaus vertretbar, finden Sie nicht?«
Sie musterte Hester kurz, schüttelte dann den Kopf. »Nein, wie sollten Sie das beurteilen können, Sie sind nicht verheiratet. Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht grob sein. Hoffentlich bin ich Ihnen nicht zu nahe getreten. Vermutlich ist das Ganze eine Frage des Ausmaßes. Und dahingehend haben sich Myles' und Tavies Ansichten beträchtlich voneinander unterschieden.«
Sie schwieg einen Moment, zog ihren Morgenmantel fester um sich und stand auf.
»Hester - ich habe schreckliche Angst. Einer meiner Angehörigen ist höchstwahrscheinlich ein Mörder. Monk ist verschwunden, hat uns allein gelassen, und ich werde die Wahrheit womöglich nie erfahren. Ich kann mich nicht entscheiden, was schlimmer ist: nichts zu wissen und sich alles mögliche vorzustellen, oder alles zu wissen, nie mehr vergessen und doch nichts an dem Geschehenen ändern zu können. Und was, wenn derjenige
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