Gefährliche Trauer
er war sich bewußt, daß seine Worte schwer genug wogen und jede übermäßige Gefühlsbezeigung von seiner Seite die Katharsis nur zu schnell und zu gewaltsam herbeiführen würde. Er hatte seine Zeugen in dieser Reihenfolge auftreten lassen, um das Geschehen vor den Geschworenen möglichst so zu rekonstruieren, wie es sich tatsächlich zugetragen hatte: erst die Krim, dann der Tod von Hesters Eltern, schließlich die Tat selbst. Stück für Stück entlockte er Monk die detailgetreue Beschreibung der Wohnung am Mecklenburg Square, der Spuren von Kampf und Tod, wie er die Wahrheit nach und nach herausgefunden hatte.
Die meiste Zeit über drehte Rathbone ihr den Rücken zu, da er entweder Monk oder die Geschworenen ansah, aber schon seine Stimme allein zog sie in ihren Bann. Jedes einzelne Wort war so klar wie ein geschliffener Edelstein und blieb unwiderruflich im Gedächtnis haften, wo Stück für Stück das Bild einer tragischen Geschichte entstand.
Während er die Fragen beantwortete, stellte Monks Miene neben der überwiegenden Hochachtung auch ein flüchtiges Aufflackern von Unmut zur Schau. Rathbone behandelte ihn keineswegs wie einen bevorzugten Zeugen, im Gegenteil, er schien in ihm fast so etwas wie einen Gegner zu sehen; sein Ton hatte eine gewisse Schärfe, einen leicht feindseligen Beiklang. Ein Blick auf die Geschworenen erklärte warum. Sie waren derart gebannt, daß sie nicht einmal die Köpfe wendeten, als in den Zuschauerreihen eine Frau ein spitzes Quieken von sich gab und von einer Nachbarin wiederbelebt werden mußte. Monks Verständnis für Menard Grey schien ihm wider Willen entzogen zu werden, obwohl Hester genau wußte, daß es vorhanden war. Sie konnte sich gut an seinen Blick erinnern, als er Menard verhaften mußte, an seinen inneren Aufruhr und die Wut auf seine eigene Machtlosigkeit, weil es nicht zu verhindern war. In diesem Moment hatte sie ihn ohne alle Vorbehalte gemocht, in der sicheren Überzeugung, daß sie ausnahmsweise einmal voll und ganz einer Meinung waren.
Nachdem sich das Gericht am späten Nachmittag zur Beratung zurückgezogen hatte, ließ Hester sich von der schubsenden und drängelnden Menge auf die Straße hinaustragen. Dort angelangt, stürzte sich alles auf das Gewühl von Karren, Rollwagen und Kutschen, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Die Reporter jagten davon, um ihren Bericht unter Dach und Fach zu haben, ehe sich die Druckerpressen für die Frühausgabe in Bewegung setzten, die Straßensänger, um schleunigst eine neue Strophe zu komponieren und unters Volk zu bringen.
Hester stand im schneidenden Abendwind auf den Stufen des Gerichtsgebäudes unter einer hellen Laterne und sah sich suchend nach Callandra um, die sie im Getümmel verloren hatte. Statt dessen erblickte sie Monk. Sie war unsicher, ob sie ihn ansprechen sollte oder nicht. Das Auflebenlassen der Geschehnisse des vergangenen Sommers hatte auch den damaligen chaotischen Gefühlszustand wieder wachgerufen und ihren gesamten Groll gegen ihn hinweggeschwemmt.
Wenn sich an seiner Abneigung nun nichts geändert hatte? Sie stand wie angewurzelt da, unfähig zu einem Entschluß.
Er befreite sie aus ihrem Dilemma, indem er zu ihr herüberkam. Zwischen seinen Brauen zuckte es leicht.
»Und, Miss Latterly? Denken Sie, Ihr Freund Rathbone ist seiner Aufgabe gewachsen?«
Sie blickte ihm skeptisch in die Augen und entdeckte echte Besorgnis darin. Die bissige Antwort, die ihr auf der Zunge gelegen hatte, war vergessen. Schließlich war es absolut unwichtig, sich darüber zu streiten, ob Rathbone nun ihr Freund war oder nicht. Sarkasmus war ein gutes Mittel gegen die Angst, daß Menard Grey möglicherweise hängen mußte.
»Ich denke schon«, bestätigte sie statt dessen. »Ich habe die Gesichter der Geschworenen während Ihrer Aussage beobachtet. Natürlich habe ich keine Ahnung, was noch kommen wird, aber bis jetzt sieht es so aus, als ob sie mehr über die schreiende Ungerechtigkeit des Ganzen und unsere diesbezügliche Hilflosigkeit entsetzt wären als über den Mord an sich. Falls Mr. Rathbone diese Stimmung aufrechterhalten kann, bis sie ihren Spruch fällen müssen, wäre das von großem Vorteil. Zumindest …« Sie brach unvermittelt ab, weil ihr plötzlich klar wurde, daß an den Fakten nicht zu rütteln war, egal wem die Geschworenen die Schuld zusprachen. »Nicht schuldig« konnten sie jedenfalls nicht befinden, wie groß die Provokation auch gewesen sein mochte. Letztlich lag es
Weitere Kostenlose Bücher