Gefährliche Trauer
gezielte Abfuhr. Trotz ihrer Neugier wagte Hester nicht, um die Ecke zu spähen, da sie fürchtete, die Bewegung könnte bemerkt werden. Dicht an die Bettlakenstapel in dem Regal hinter sich gelehnt, ihre sauberen Schürzen fest an sich gepreßt, stand sie reglos da und stellte sich das Gefühl plötzlicher Kälte vor, das Rose überfallen haben mußte. Etwas ganz Ähnliches war ihr im Krankenhaus von Skutari widerfahren. Es hatte dort einen Arzt gegeben, der ihr überaus sympathisch gewesen war - nein, mehr als das: Er war der Inhalt ihrer Tagträume gewesen, ein törichtes, unrealistisches Wunschbild. Und dann hatte er ihre Illusionen eines Tages mit einem einzigen, abweisenden Wort zerstört. Noch wochenlang danach hatte sie darüber nachgegrübelt, ob es sein Ernst gewesen war, ob er es vielleicht sogar in der Absicht getan hatte, ihre Gefühle zu verletzen. Dieser Gedanke hatte ihr heiße Schauer der Scham über den Rücken gejagt.
Rose schwieg. Hester hörte sie nicht mal mehr atmen.
»Schließlich ist das zur Zeit nicht gerade die beste Adresse«, fuhr Percival fort, anscheinend von dem Bedürfnis getrieben, sich zu rechtfertigen. »Die Polizei kommt und geht, wann sie will, stellt lästige Fragen. Ganz London weiß, daß hier ein Mord geschehen ist - und was noch viel schlimmer ist, daß der Täter in diesem Haus wohnt! Die werden keine Ruhe geben, bis sie wissen, wer's war.«
»Und solang sie das nicht tun, werden sie dich nicht gehen lassen, oder?« versetzte Rose gehässig. »Du kannst es immerhin auch gewesen sein.«
Das hatte offenbar gesessen. Percival sagte eine Weile nichts mehr, und als er sich wieder gefangen hatte, klang seine Stimme aggressiv und nervös.
»Sei doch nicht blöd! Wieso hätte einer von uns so was tun sollen? Es muß einer von der Familie sein. So leicht läßt sich die Polizei nicht an der Nase rumführen - deshalb hängt sie auch immer noch hier rum.«
»Ach ja? Und fragt uns Löcher in den Bauch? Warum lassen sie uns dann nicht in Ruhe?«
»Ist doch bloß 'ne faule Ausrede.« Seine Sicherheit kehrte zurück. »Sie müssen eben so tun, als ob's einer von uns war. Was, glaubst du wohl, würde Sir Basil sagen, wenn sie zugeben, daß sie die Familie verdächtigen?«
»Der hätte dann nichts zu sagen!« Rose war immer noch wütend. »Die Polizei kann tun und lassen, was sie will.«
»Klar war's einer von der Familie.« Percival schaltete wieder auf Geringschätzung. »Und ich hab auch einen Verdacht, wer - und warum. Ich weiß 'n paar Dinge, aber ich sag besser nichts. Dauert sowieso nicht mehr lang, dann finden sie's raus. So, jetzt muß ich wieder an die Arbeit - und du ebenfalls.« Damit drängte er sich an ihr vorbei und verschwand um die Ecke. Hester trat rasch in den Durchgang, damit man nicht glaubte, sie hätte gelauscht.
»Na, und ob«, bestätigte Mary mit blitzenden Augen, während sie einen Kissenbezug ausschüttelte und zusammenfaltete.
»Rose ist bis über beide Ohren in Percival verknallt, die dumme Gans.« Sie griff nach dem nächsten Bezug und untersuchte den Spitzenbesatz auf Risse, bevor sie ihn ebenfalls zum Bügeln zusammenlegte. »Zugegeben, er sieht gut aus, aber was kann man sich dafür kaufen? 'nen furchtbaren Ehemann würd der abgeben - eitel wie 'n Pfau und immer nur auf den eigenen Vorteil aus - und sie nach ein oder zwei Jahren sitzenlassen. Gehört zu der Sorte, die ganz gern mal 'n Auge riskiert. Harold wär 'n viel besserer Kandidat, aber der würd Rose nicht mal ansehen; alles, was der sieht, ist Dinah. Verzehrt sich ihretwegen die letzten anderthalb Jahre vor Gram, der arme Tropf.« Sie legte den Kissenbezug zur Seite und machte sich an einen Berg Spitzenpetticoats, die allesamt weit genug waren, um über die breiten Gestelle zu passen, dank derer die Röcke jene plumpe, aber als kleidsam geltende Krinolinenforrn behielten. Hester hätte etwas Praktischeres, natürlicher Anmutendes vorgezogen - aber sie hinkte der Mode einen Schritt hinterher, und das nicht zum erstenmal.
»Und Dinah hat ein Auge auf den Lakai von nebenan geworfen«, seufzte Mary, während ihre Finger die Rüschen mechanisch zurechtzupften. »Obwohl ich wirklich nicht versteh, was sie an dem findet. Ja, er ist groß, was sich natürlich trifft, wo Dinah selbst so groß ist, aber Größe allein ist 'n schwacher Trost in kalten Nächten. Hält dich nicht warm und bringt dich nicht zum Lachen. Sie haben bei der Armee sicher auch 'n paar ansehnliche Soldaten kennengelernt,
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